Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке. Генрих Бёлль. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Генрих Бёлль
Издательство: КАРО
Серия: Originallektüre Deutsch
Жанр произведения: Зарубежная классика
Год издания: 2007
isbn: 978-5-89815-936-8
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Leben. Nicht diese makellose Ordnung, nicht diesen Chef, der makellos gekleidet und makellos höflich war – und ihr unheimlich; sie witterte Verachtung hinter dieser Höflichkeit, die er jedem, mit dem er zu tun hatte, zuteil werden ließ. Doch mit wem, außer ihr, hatte er schon zu tun? Soweit sie zurückdenken konnte, hatte sie ihn nie mit jemandem sprechen sehen – außer mit seinem Vater, seinem Sohn, seiner Tochter. Niemals hatte sie seine Mutter gesehen, die lebte irgendwo in einem Sanatorium für Geistesgestörte, und dieser Herr Schrella, der noch auf der roten Karte stand, hatte niemals nach ihm verlangt. Sprechstunden hielt Fähmel nicht ab, Kunden, die telefonisch anfragten, musste sie bitten, sich schriftlich an ihn zu wenden.

      Wenn er sie bei einem Fehler ertappte, machte er nur eine wegwerfende Handbewegung, sagte: „Gut, dann machen Sie es noch einmal, bitte.“ Das geschah selten, denn die wenigen Fehler, die ihr unterliefen, entdeckte sie selbst. Das ‚Bitte‘ jedenfalls vergaß er nie. Wenn sie ihn darum bat, gab er ihr frei, für Stunden, für Tage; als ihre Mutter starb, hatte er gesagt: „Dann schließen wir das Büro für vier Tage… oder möchten Sie lieber eine Woche?“ Doch sie wollte keine Woche, nicht einmal vier Tage, nur drei, und selbst die wurden ihr in der leeren Wohnung zu lang. Zur Seelenmesse und zur Beerdigung erschien er natürlich in vollendetem Schwarz, erschienen sein Vater, sein Sohn, seine Tochter, trugen alle riesige Kränze, die sie eigenhändig am Grab niederlegten, lauschten der Liturgie; und sein alter Vater, den sie mochte, flüsterte ihr zu: „Wir Fähmels kennen den Tod, stehen auf vertrautem Fuß mit ihm, liebes Kind.“

      All ihren Wünschen um Vergünstigungen kam er widerstandslos entgegen, und so fiel es ihr im Laufe der Jahre immer schwerer, ihn um eine Gunst zu bitten; er hatte die Arbeitszeit mehr und mehr herabgesetzt; im ersten Jahr hatte sie noch von acht bis vier gearbeitet, aber nun war ihre Arbeit schon seit zwei Jahren so rationalisiert, dass sie gut von acht bis eins getan werden konnte, ihr sogar noch Zeit blieb, sich zu langweilen, die Putzminuten auf halbe Stunden auszudehnen. Kein Wölkchen mehr auf dem Messingschild zu entdecken! Seufzend schraubte sie die Flasche mit dem Putzmittel zu, faltete den Lappen; immer noch stampften die Druckereimaschinen, druckten unerbittlich Erbauliches auf weißes Papier, immer noch blutete der Keiler. Lehrjungen, Lastwagen, Nonnen: Leben auf der Straße.

      Auf dem Schreibtisch die rote Karte; seine makellose Architektenschrift: ‚… für niemanden sonst‘. Die Telefonnummer, die sie mühsam, in langweiligen Stunden, über ihre Neugier errötend, identifiziert hatte: ‚Hotel Prinz Heinrich‘. Der Name hatte ihrer Witterung neue Nahrung gegeben: was tat er morgens zwischen halb zehn und elf im Hotel Prinz Heinrich? Eisige Stimme am Telefon: ‚Dummes Stück‘. Hatte er wirklich nicht ‚bitte‘ dazu gesagt? Der Stilbruch stimmte sie hoffnungsvoll, tröstete sie über die Arbeit, die auch ein Automat hätte ausführen können.

      Zwei Musterbriefe, die in vier Jahren nicht geändert worden waren, die sie schon in den Durchschlägen ihrer Vorgängerin entdeckt hatte; einen für die Kunden, die Aufträge erteilen: ‚Danken wir Ihnen für Ihr Vertrauen, das wir durch rasche und korrekte Erledigung des Auftrages rechtfertigen werden. Hochachtungsvoll‘; der zweite Brief, der zu schreiben war, wenn sie die statischen Unterlagen an die Kunden zurückschickte: ‚Anbei die gewünschten Unterlagen für das Bauvorhaben X. Das Honorar in Höhe von Y bitten wir auf unser Bankkonto zu überweisen. Hochachtungsvoll.‘ Blieben freilich für sie gewisse Variationen; für X hatte sie einzusetzen: Haus für einen Verleger am Waldrand, Haus für einen Lehrer am Flussufer, Bahnüberführung Hollebenstraße. Für Y das Honorar, das sie nach einem einfachen Schlüssel selbst errechnen musste.

      Blieb noch der Briefverkehr mit seinen drei Mitarbeitern: Kanders, Schrit und Hochbret. Denen musste sie die Aufträge in der Reihenfolge ihres Eintreffens zuschicken. „Damit“, so hatte Fähmel gesagt, „die Gerechtigkeit ihren automatischen Verlauf nimmt und das Glück eine repräsentative Chance hat.“ Kamen die Unterlagen zurück, musste das, was Kanders errechnet hatte, Schrit; was Hochbret errechnet hatte, Kanders; was Schrit errechnet hatte, Hochbret zur Überprufung zugeschickt werden. Karteien waren zu führen, Spesenrechnungen zu buchen, Zeichnungen zu fotokopieren und von jedem Bauvorhaben eine Fotokopie in doppelter Postkartengröße für sein Privatarchiv herzustellen; – aber die meiste Arbeit bestand im Frankieren: immer wieder die Rückseite des grünen, des roten, des blauen Heuss übers Schwämmchen gezogen, die Marke sauber in die rechte obere Ecke des gelben Umschlags geklebt; sie empfand es schon als Abwechslung, wenn mal ein brauner, ein violetter, ein gelber Heuss darunter war.

      Fähmel hatte sich zum Prinzip gemacht, nie länger als eine Stunde pro Tag im Büro zu verbringen; er schrieb seinen Namen unters Hochachtungsvoll, unter Honoraranweisungen. Kamen mehr Aufträge, als er in einer Stunde hätte bewältigen können, lehnte er die Annahme ab. Für diese Fälle gab es hektographierte Zettel mit dem Text: ‚Infolge Arbeitsüberlastung sehen wir uns leider gezwungen, auf Ihren geschätzten Auftrag zu verzichten. Gez. F.‘

      Nicht ein einziges Mal, wenn sie ihm morgens zwischen halb neun und halb zehn gegenübersaß, hatte sie ihn bei intimen menschlichen Verrichtungen gesehen; beim Essen, Trinken; niemals einen Schnupfen an ihm bemerkt; errötend dachte sie an intimere Dinge als diese; dass er rauchte, war kein Ersatz für das Vermisste: zu makellos war die schneeweiße Zigarette, nur die Asche, die Stummel im Aschenbecher trösteten sie: das war wenigstens Abfall, bewies, dass Verbrauch stattgefunden hatte. Sie hatte schon bei gewaltigen Chefs gearbeitet, Männern, deren Schreibtische wie Kommandobrücken waren, deren Physiognomie Furcht einflößte, doch selbst diese Großen hatten irgendwann einmal eine Tasse Tee, einen Kaffee getrunken, ein belegtes Brot gegessen, und der Anblick essender und trinkender Gewaltiger hatte sie immer in Erregung versetzt: da krumelte Brot, blieben Wurstpellen übrig und speckige Schinkenränder, mussten Hände gewaschen, Taschentücher gezogen werden. Versöhnliches zeigte sich hinter Stirnen aus Granit, die über ganze Armeen befahlen, Münder wurden in Gesichtern abgewischt, die einstmals, in Bronze gegossen, auf Denkmalsockeln späteren Geschlechtern von ihrer Größe künden wurden. Fähmel, wenn er um halb neun aus dem Hinterhaus kam, brachte keine Frühstücksspuren mit, war – wie es einem Chef geziemt hatte – weder nervös noch gesammelt; seine Unterschrift, auch wenn er vierzigmal seinen Namen unters Hochachtungsvoll zu schreiben hatte, blieb leserlich und schön; er rauchte, unterschrieb, blickte selten einmal in eine Zeichnung, nahm Punkt halb zehn Mantel und Hut, sagte: „Bis morgen dann“ und verschwand. Von halb zehn bis elf war er im Hotel Prinz Heinrich zu erreichen, von elf bis zwölf im Cafe Zons, erreichbar nur für ‚seine Mutter, seinen Vater, seine Tochter, seinen Sohn – und Herrn Schrella‘ – ab zwölf beim Spaziergang und um eins traf er sich mit seiner Tochter ‚Im Löwen‘ zum Mittagessen. Sie wusste nicht, wie er seine Nachmittage, seine Abende verbrachte, wusste nur, dass er morgens um sieben der heiligen Messe beiwohnte, von halb acht bis acht mit seiner Tochter, von acht bis halb neun allein frühstückte. Immer wieder war sie überrascht über die Freude, die er zeigte, wenn sein Sohn sich anmeldete; immer wieder öffnete er dann das Fenster, blickte die Straße hinunter bis zum Modesttor, Blumen wurden gebracht, eine Haushälterin für die Dauer des Besuchs engagiert; die kleine Narbe über seinem Nasenbein wurde rot vor Erregung, Reinmachefrauen bevölkerten das düstere Hinterhaus, förderten Weinflaschen zutage, die im Flur für den Altwarenhändler bereitgestellt wurden; immer mehr Flaschen sammelten sich, wurden erst in Fünfer —, dann in Zehnerreihen aufgestellt, da die Lange des Flures nicht ausreichte; dunkelgrüner, starrer Staketenwald, dessen Spitzen sie errötend, sich der unziemlichen Neugier bewusst, zählte: zweihundertundzehn Flaschen, leergetrunken zwischen Anfang Mai und Anfang September, mehr als eine Flasche täglich.

      Niemals roch er nach Alkohol, seine Hände zitterten nicht. Der dunkelgrüne starre Wald wurde unwirklich. Hatte sie ihn tatsächlich gesehen, oder existierte er nur in ihren Träumen? Weder Schrit noch Hochbret oder Kanders hatte sie je zu Gesicht bekommen; die hockten weit entfernt voneinander in kleinen Nestern. Nur zweimal hatte einer beim anderen Fehler entdeckt: als Schrit die Basierung des städtischen Schwimmbades falsch errechnete, was von Hochbret herausgefunden wurde. Sie war sehr aufgeregt gewesen, aber Fähmel hatte sie nur gebeten, ihm die Rotstiftnotizen an den Rändern der Zeichnung als die von Schrit und die von Hochbret zu identifizieren, und zum ersten Mal wurde ihr klar, dass auch er offenbar vom Fach war: eine halbe Stunde lang hatte er mit Rechenschieber, Tabellen und gespitzten Bleistiften an seinem Schreibtisch gesessen, dann gesagt: „Hochbret hat recht, das Schwimmbad wäre spätestens