Das Ergebnis des Kartenspielens konnte man auf unseren Gesichtern lesen; mancher verlor sein ganzes Chanukageld und bemühte sich, die Tränen zu verbergen. Es blieb nur ein Trost: die Hoffnung, daß solche Spielabende sich wiederholen werden. Dann wandte sich das Glück und füllte wieder die leere Börse.
An solchen Abenden stellte mein Vater sogar das »Lernen« im Talmud ein und gesellte sich zu den Spielenden, obgleich er, wie meine Mutter, keine Idee vom Kartenspiel hatte. Sehr beliebt war auch das »Dreidlspiel«, auch goor genannt. Das Dreidl wurde eigens aus Blei gegossen. Es hat eine würfelähnliche Form. Unten war eine Spitze, so daß der »Apparat« wie ein Kreisel gedreht werden konnte. Auf jeder der Seitenflächen war ein Buchstabe markiert. Fiel das Dreidl auf נ, so hatte der Spieler verloren. Bei ש blieb der Einsatz stehen. Fiel es auf ה, so konnte er die Hälfte des Einsatzes nehmen. Wenn das Dreidl aber auf ג fiel, so war »goor«; der Würfler konnte den ganzen Einsatz einstreichen.
Nach der Chanuka-Woche kam das Leben in unserem Hause wieder ins alte Geleise. Es sei denn, daß Einquartierung die Ruhe wieder störte: Besuch eines hochgestellten Militär- oder Zivilbeamten. Die Festung in Brest besaß damals noch keinen Palast, und das Haus meiner Eltern war reich und bequem eingerichtet. Der damalige Kommandant Piatkin, der mit meinem Vater befreundet war, pflegte hohe Gäste in unserem Hause einzulogieren. Mancher kann ich mich noch sehr gut erinnern, z. B. des Fürsten Bebutow aus Grusinien im Kaukasus, der später in Warschau einen hohen Posten bekleidete. Er wohnte sehr lange bei uns, war zu uns Kindern freundlich und gegen alle sehr zuvorkommend. Oft brachte er uns, während wir im Blumengarten vor den Fenstern spielten, Bonbons und Honigkuchen, und unterhielt sich mit uns gemütlich in russischer Sprache. Er hatte einen Diener, der Johann hieß. Er war lang und hager, hatte eine Habichtsnase und mandelförmig geschnittene, schwarze, glühende Augen, kletterte wie eine Katze bis zur äußersten Spitze der höchsten Pappel, machte kunstvoll die Dschigetowka burduk, indem er sich von seinem im raschesten Lauf hinstürmenden, feurigen Pferde bis zur Erde herabneigte, um eine kleine Münze aufzuheben. Er war recht jähzornig; man durfte ihn nicht reizen oder ihm in den Weg kommen, wenn er aufgeregt war, denn er führte immer einen Dolch bei sich. So hat er einen Hund, der ihm einmal vor den Füßen lief, mit dem Dolch entzwei gehauen. Ein anderes Mal hat er einen Hahn im Fluge aufgefangen und ihm mit den Händen den Kopf vom Rumpfe heruntergerissen. Wir Kinder fürchteten ihn sehr.
Der zweite Gast, dessen ich mich noch entsinnen kann, war der damalige Gouverneur von Grodno, Doppelmeyer, der oft nach Brest kam und stets bei uns wohnte. Er war ein sehr leutseliger, starker, blonder Herr, der bei uns als guter Freund aufgenommen wurde. Er hielt es für seine Pflicht, meinen Eltern, so oft er kam, eine Visite zu machen. Geschah dies an einem Freitag Abend, so wurde er mit einem Stück Pfefferfisch regaliert, den er mit großem Appetit verzehrte. Auch dem schönen geflochtenen Schabbes-(Sabbat) Strietzel ließ er volle Gerechtigkeit widerfahren. Es muß ein wohlgefälliges Bild gewesen sein, wenn alle meine Geschwister mit ihren jungen, blühenden Gesichtern und meine Eltern um den Tisch saßen. Denn der Gouverneur sagte viel Schmeichelhaftes darüber und beglückwünschte meine Eltern. Er unterhielt sich mit meinem Vater über mancherlei ernste Angelegenheiten und blieb plaudernd bis zum Ende der Mahlzeit: Der Verkehr zwischen Juden und Christen war damals noch nicht durch den Antisemitismus vergiftet …
Unter den Gästen meines Vaterhauses war auch ein kleines, jüdisches Männchen, das alljährlich im Hochsommer zu uns kam und einige Wochen bei uns weilte. Er gehörte der Sekte »Dower min hachai« an, d, h. die nichts vom Lebendigen Genießenden; die man jetzt Vegetarier nennt. Er hielt diese Vorschriften aber so strenge inne, daß er nicht einmal von dem Geschirr aß, das auch nur einmal zu Fleischspeisen benutzt worden war. Meine fromme Mutter pflegte selbst für ihn die Speisen zuzubereiten, eine Suppe aus sauren, roten Rüben oder Sauerampfer, Grützbrei ohne jeden Fettzusatz, nur mit etwas Baumöl zubereitet; ferner Nüsse in Honig, oder Rettig in Honig mit Ingwer gekocht, Tee und schwarzen Kaffee. – Er war ein stiller, höchst bescheidener Mann und wurde von uns allen sehr verehrt, insbesondere auch von meinem Vater, der mit ihm in seinem Kabinett über die Folianten gebeugt zu sitzen und zu disputieren pflegte.
Das Leben im Winter hatte für mich einen besonderen Reiz. Gerade wenn es tüchtig schneite, liebte ich es, draußen herum zu spazieren. In der Dämmerstunde, wenn ich zu frieren anfing, schlich ich mich in den »Flügel«, so hieß das Seitengebäude im Hofe, wo meine verheirateten Schwestern mit ihren Männern und Kindern lebten. Mein Besuch dort galt der Njanja (Kinderwärterin) des kleinen Sohnes meiner Schwester. Die Njanja erzählte mir oft sehr interessante Märchen und sang sehr schöne Liedchen. Ich fand sie gewöhnlich an der Wiege sitzend, die sie mit einem Fuß in Bewegung hielt, während ihre gerunzelten, blau-gelben Hände an einem dunkelgrauen, groben Wollstrumpf strickten. Ich kroch mit Händen und Füßen auf das Bett, auf dem sie saß, und bat mit allerlei Schmeichelworten, sie solle mir den Strumpf zum Stricken geben.
»Nein«, grinste sie, »du wirst wie gestern nur wieder die Maschen fallen lassen. Geh weg von mir!«
»Chainke, Jubinke«, begann ich aufs Neue, »wenn Ihr mir nicht den Strumpf gebt, so singt mir von den Liedelach, die Ihr singt, wenn Ihr Berele einschläfert.«
Grämlich antwortete sie: »Mir ist nicht zum Singen.«
»Seid Ihr krank, Chainke?« fragte ich sie besorgt.
»Laß mich in Ruh«, schrie sie aufspringend. Aber ich ließ mich von dieser ihr eigenen Laune nicht abschrecken und wiederholte meine Bitte, die ich durch Küsse ihrer faltigen Wangen und Streicheln ihres runzeligen Halses unterstützte.
»Mischelaches!« (Gottesplage) schrie sie auf, »um von dir poter zi weren (um dich los zu werden), werd' ich dir schon singen.«
Ich setzte mich zurecht, als ob sie ohne meine Vorbereitung nicht singen könnte und lauschte.
Und sie sang:
»Patschen, patschen Küchalach,
Kaufen, kaufen Schichalach,
Schichalach kaufen,
In Cheider (Schule) wet das Kind laufen,
Laufen wet es in den Cheider,
Lernen wet es gur Kiseider (der Reihe nach)
Wet es oblernen etliche Schures (einige Zeilen)
Wet man heren gute Bsures (gute Nachrichten hören)
Bsures toiwes (gute) zu zuheren
Abi dem Oilom (Publikum) a Eize zu geben (Rat zu geben),
Eine Eize zu geben mit viel Mailes (gute Eigenschaften)
Wet das Kind paskenen Scheiles (Fragen über koscher und treife und andere talmudische Fragen entscheiden)
Scheiles wet es paskenen.
Drosches wet es darschenen (talmudische Reden halten)
Wet men ihm schicken die gildene Pischkele, (wird man ihm schicken eine goldene Dose)
Un