Memoiren einer Grossmutter, Band I. Pauline Wengeroff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Pauline Wengeroff
Издательство: Public Domain
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Жанр произведения: История
Год издания: 0
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Es war kein Chaos von Sitten, Gebräuchen und Systemen, wie jetzt in den jüdischen Häusern. Das jüdische Leben von damals hatte einen ausgeglichenen Stil, trug einen ernsten, den einzig würdigen jüdischen Stempel. Darum sind uns die Traditionen des elterlichen Hauses so heilig und teuer bis auf den heutigen Tag geblieben! Wir aber mußten viel Leid erdulden, bis wir notgedrungen uns in unserem eigenen Hause einer ganz anderen Lebensweise unterwarfen, die unseren Kindern wohl wenig erbauliche und noch weniger angenehme Erinnerungen aus ihrem elterlichen Hause hinterlassen wird!

      Liebe, Milde und doch Bestimmtheit waren die Erziehungsmittel der Eltern. Und ein gut Wörtchen half über manche Schwierigkeit hinweg.

      Eine Episode:

      Eines Morgens fand mich mein Vater, der von der Stadt zurückkehrte, allein und weinend auf der Straße. Ich glaube, eine Gespielin hatte mir die Puppe fortgenommen. Er wurde böse, daß ich ohne Begleitung umherlief und fragte ärgerlich, warum ich weinte. Ich war aber von meinem großen Schmerz so erfüllt, daß ich keine Antwort zu geben vermochte und noch heftiger zu schluchzen begann. Da wurde mein Vater erst recht zornig und rief: »Warte nur, die Rute wird dich antworten lehren!« Er ergriff meine Hand und zog mich rasch ins Haus. Der Vater ließ sich eine Rute geben und machte Anstalten, mich zu prügeln. Ich war ganz still geworden und sah verblüfft zum Vater hinauf – ich wurde nie mit der Rute bestraft – und sagte überrascht: »Ich bin ja Pessele!« Ich war der festen Überzeugung, daß mein Vater mich nicht erkannt und sich geirrt hatte.

      Und diesem selbstbewußten Verhalten hatte ich es zu verdanken, daß ich von der Rute verschont blieb. Alle Umstehenden lachten und baten für mich um Nachsicht.

      Ich beschäftigte mich mit Vorliebe im Gemüsegarten beim Ausgraben der Kartoffeln und anderer Gemüse; ich bat mir von den halberfrorenen Weibern bald den Spaten, bald die Harke aus und hantierte damit flink, bis die scharfe, kalte Herbstluft mich mahnte, geschwind ins Haus zu laufen. Nachdem alles Gemüse aus unserem Garten eingekellert war, wurde noch viel auf dem Markt eingekauft. Dann ging's an die sehr wichtige Arbeit – an das Einlegen von Sauerkohl, womit in jedem Herbst viele arme Frauen volle acht Tage beschäftigt waren. Nach den jüdischen Vorschriften ist es streng geboten, die Würmchen, die im Gemüse und in den Früchten, besonders aber im Kohl nisten, sorgsam zu entfernen; und so wurde von jedem Kohlkopf Blatt um Blatt abgenommen, gegen das Licht gehalten und genau untersucht. Meine fromme Mutter war in der Erfüllung der Vorschriften sehr peinlich und pflegte, wenn der Kohl besonders geraten und von der besten Sorte war und wenig Würmer hatte, den Frauen eine besondere Belohnung für jeden gefundenen Wurm zu geben, denn sie war immer in Sorge, daß die Frauen bei der Arbeit nicht genügend aufmerksam waren. Ich sah auch hier gern zu wie bei der Arbeit im Gemüsegarten, weil die Frauen dabei allerlei Volkslieder sangen, die mich tief ergriffen und mich schmerzlich weinen, aber auch häufig herzlich lachen machten. Viele dieser Lieder sind mir bis jetzt im Gedächtnis geblieben und sind mir teuer!

      Es war ein geruhiges Leben!

      Wir leben jetzt in dem Zeitalter von Dampf und Elektrizität viel schneller, so will es mir scheinen. Das hastige Treiben der Maschinen hat auch auf den menschlichen Geist eingewirkt. Wir erfassen manches viel rascher und begreifen ohne Mühe so viele komplizierte Dinge, indes man früher die einfachste Tatsache nicht begreifen konnte. Ich entsinne mich eines Beispiels, das mir im Gedächtnis geblieben ist und das ich hier anführen will. In den vierziger Jahren baute mein Großvater für die Regierung die Chaussee von Brest nach Bobruisk. Auf der Strecke befanden sich Berge, Täler und Sümpfe, so daß eine Wagenreise volle zwei Tage dauerte, während man dieselbe Tour auf der Chaussee bequem in einem Tage sollte zurücklegen können. Alles sprach natürlich von dem für jene Zeit großen Unternehmen, aber es fanden sich selbst in den höheren Gesellschaftskreisen Skeptiker, die ihre Zweifel äußerten und sagten: »Solange sich die Menschen erinnern, waren zwei Tage nötig, um den Weg, von Brest in Lithauen nach Bobruisk zurückzulegen, und da kommt Reb Zimel Epstein und erzählt uns, er wird ihn auf eine Tagereise verkürzen. Wer ist er? Gott? Wird er die übrige Strecke Wegs in seine Tasche stecken?«

      In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts waren die Wege in Litauen und in manchen Teilen Rußlands überhaupt noch wüst. Endlose Steppen, Sümpfe, teilweise noch Urwald dehnten sich meilenweit, bis die große Kaiserin Catharina II. auf beiden Seiten mit Birkenbäumen bepflanzte Landstraßen anlegen ließ. Die Seitenwege waren aber sowohl für die Fußgänger, die man als Boten von Ort zu Ort sandte, sowie für die in Schlitten und Wagen Reisenden noch sehr gefährlich, besonders im Winter durch den tiefen Schnee. Zur Überwindung dieser Gefahren wurde die Pferdepost eingeführt. Dazu gehörte die Troika, das Dreigespann, der Postkutscher, Jamschezik genannt, ein halbwilder, schwerfälliger, immer betrunkener Bauer, der bei seinem Pferde lebte und starb. Viel gebraucht wurde auch die Kibitka, ein plumpes Wägelchen, dessen vier schwere Räder zwei breite Holzstangen verbanden, auf denen ein aus Brettern zusammengesetzter, halb überdeckter Korb ruhte, oder die Telega, ein ebenso plumpes Wägelchen ohne Verdeck. Das Geschirr der Pferde bestand aus grobem Leder, das mit Messingblech reich verziert war. Das mittlere Pferd hatte über dem Kopfe ein Krummholz, in dessen Mitte eine mächtige Glocke hing. Einen ebenso schwerfälligen, echt russischen Charakter wie das Gefährt hatten die etwa 20-25 Werst von, einander entfernt liegenden Poststationen. Eine große Stube mit weißgetünchten Wänden, ein großmächtiger, mit schwarzem Wachstuch bezogener Divan, der lange, hölzerne, auch mit Wachstuch benagelte Tisch, darauf der hohe, schmale, schmutzige, mit grünem Schimmel überzogene Samowar und ein schwarzes, verräuchertes Teebrett mit blinden, unsauberen Gläsern. Der hohe magere, immer, selbst am Mittag, schlaftrunkene, ungewaschene und ungekämmte Stationschef in seiner unsauberen Vizeuniform mit den blinden Messingknöpfen vervollkommnete das typische Bild, das mir heute nach 65 Jahren noch lebhaft vor Augen steht. – Von dieser Einrichtung konnten indes nur die reicheren Leute Gebrauch frischen, namentlich die höheren Militärs und Kouriere, die zu Pferde Botschaften von den Hauptstädten nach einer Gouvernementsstadt übermittelten, wozu man sich jetzt des Telephons und Telegraphen bedient.

      Das gewöhnliche Publikum bediente sich eines einfachen, mit Leinwand bespannten Wagens, der von zwei oder drei Pferden gezogen wurde. Das bessere Publikum benutzte den. Tarantass, eine halbbedeckte Kutsche, die auf zwei dicken Holzstangen ruhte, oder den Fürgon, eine ganz mit Leder überdeckte Kutsche mit einer Tür in der Mitte. Nicht selten wurden diese Fuhrwerke samt den Passagieren auf freiem Felde vom Schneesturm verschüttet. – Erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde durch den Bau der Chausseen diesen Übelständen abgeholfen. Nun hemmte kein Berg, kein Sumpf, kein Wald das schnelle Vorwärtskommen, und auf gradlinigem, ebenen Wege gingen die Fuhrwerke dahin. Die Sicherheit wurde dadurch erhöht, daß außer den Poststationen in regelmäßigen Abständen Wachhäuschen mit Wächtern eingerichtet wurden. Das nun schon bequemere Reisen machte das Volk beweglicher. Handel und Verkehr entwickelten sich erstaunlich rasch und schon am Anfang der vierziger Jahre zeigte sich das Bedürfnis nach einem schnelleren Verkehrsmittel. Da wurde dann die Einrichtung der sogenannten Diligence getroffen, ein bequemer Wagen mit zwei Abteilungen, der zwölf bis fünfzehn Personen zu einem mäßigen Preis täglich von Ort zu Ort führte. Er war mit drei Pferden bespannt und wurde von dem Postillon gelenkt, der eine eigenartige Uniform trug und auf seiner Trompete eine traditionelle Weise blies. In Russisch-Polen nannte man dieses Verkehrsmittel nach dem Unternehmer »Stenkelerke«, in Ostpreußen »Journalière«. Man war im allgemeinen sehr mit dieser Einrichtung zufrieden und glaubte, nie etwas Besseres finden zu können. Gleichwohl wusste man schon um die Mitte der fünfziger Jahre auch in Rußland von der Erfindung der Eisenbahn, und anfangs der 60er Jahre konnte man auch schon im Zarenreich weite Strecken per Dampf zurücklegen. In den vierziger Jahren brauchte man mit Postpferden sieben Tage, um eine Entfernung von 800 Werst zu überwinden, wofür in den sechziger Jahren mit der Eisenbahn dreißig Stunden ausreichten.

      Nicht minder bedeutsam war die Entwicklung des Verkehrswesens innerhalb der Städte: im Anfang ein elendes Korbwägelchen auf hölzernen Rädern, von einem mit Stricken angeschirrten Pferde langsam gezogen, für das »Volk«, und zwar nur für zwei Personen; für das bessere Publikum die sogenannte Droschke oder »Lineika«, die heute noch existiert: ein Lederkorb auf hängenden Ressorts, zwei Deichselstangen, zwischen die ein Pferd mit einem Krummholz über dem Kopfe eingespannt war. In der Lineika war für acht Personen Platz, auf einem langen Sitze saßen auf jeder Seite vier Personen, Rücken an Rücken. Diese Gefährte schüttelten