Memoiren einer Grossmutter, Band I / Bilder aus der Kulturgeschichte der Juden Russlands im 19. Jahrhundert
Geleitwort
Die jüdische Literatur besitzt leider nur sehr wenige Memoirenwerke.
Aus dem jüdischen Leben in Russland kenne ich nur ein einzige, die »Zapiski Jewreja« von Gregor Isaakowitsch Bogrow. Diesem Werke, das uns einen tiefen und charakteristischen Einblick in das Leben und Treiben der Juden in Russland zu Anfang des vorigen Jahrhunderts eröffnet hat, schliessen sich die Memoiren der Pauline Wengeroff ebenbürtig an. Mit inniger Liebe und großer Pietät, mit seltener Treue und aufrichtiger Wahrhaftigkeit, mit einem milden verklärenden Humor und mit feinem psychologischem Takt erzählt sie uns wichtige Episoden aus einer grossen Übergangszeit, aus der Zeit, in welcher die Aufklärung unter den Juden in Russland die Nebel, die bis dahin über dem russischen Judentum lagerten, zu durchbrechen begann, aus einer vielbewegten, interessanten, merkwürdigen Periode, deren Geschichte noch nicht geschrieben ist, sondern erst dann geschrieben werden kann, wenn wir noch eine ganze Reihe solcher Memoiren besitzen werden.
Die russischen Juden haben in den letzten Jahren im Vordergrund des öffentlichen Interesses gestanden. Ihre Schicksale und Leiden haben die Teilnahme der ganzen Kulturwelt gefunden. Natürlich hat man sich auch viel mit ihren Charaktereigenschaften, mit ihrer Geschichte und mit ihrer Literatur beschäftigt. Erst dadurch kam weiteren Kreisen die Erkenntnis, welch ein reicher Schatz von Phantasie und Bildung, von Poesie und Begabung in diesen Judenstädten und Judengassen des weiten Zarenreiches aufgespeichert liegt und dort der grossen Schilderer und Dichter harrt, die diesen Schatz zu heben verstehen.
Unwillkürlich wird man bei Betrachtung der Kulturarbeit, die uns die Memoiren von Frau Pauline Wengeroff so anschaulich schildern, an ein Wort von Nikolaj Gogol in seinem klassischen Roman »Tote Seelen« erinnert. Die Kibitka des Helden jagt mir rasender Eile über die weite unübersehbare Ebene dahin und verliert sich schliesslich in die graue Ferne. »Und jagst nicht auch Du, mein Russland, vorwärts wie eine nicht einzuholende Troika? Der Weg hinter dir dampft, die Brücken krachen, alles lässt du hinter dir. Die Zuschauer bleiben überrascht stehen und fragen: War es ein Blitz? Was bedeutet die schauererweckende Eile, welche geheimnisvolle Kraft beseelt diese Pferde? Was für Pferde sind das? Habt ihr Wirbelwind in euren Mähnen?.... Habt ihr von oben bekannte Töne gehört und strengt ihr nun eure Eisenkörper an, ohne die Erde mit euren Hufen zu berühren, durch die Lüfte zu fliegen, als wäret ihr von einem Gotte begeistert? Russland, wohin jagst du? Antworte! Da kommt keine Antwort. Man hört die Glöckchen der Pferde wundersam klingen; es stöhnt in der Luft und wächst, wie zum Sturme an und Russland setzt seine kühne Jagd fort.«
Feine Ohren werden vielleicht aus den Blättern dieser Memoiren einen Teil der Antwort heraus hören, und aufmerksame Beobachter werden die rapide Entwickelung der Juden Russlands von finsterem Aberglauben und der Erstarrung zum hellen Lichte der Aufklärung und innerer Freiheit verstehen lernen.
Dann ist aber auch der Zweck dieses liebenswürdigen Buches erfüllt, das meine besten Wünsche auf seinem Wege in die Öffentlichkeit geleiten mögen.
Vorbemerkung
Ich war ein stilles Kind, auf das jedes freudige und traurige Ereignis in meiner Umgebung tief einwirkte. Viele Vorgänge prägten sich meinem Gedächtnis gleich einem Abdruck in Wachs ein, so daß ich mich ihrer noch jetzt ganz deutlich erinnere. Die Begebenheiten stehen frisch und lebendig vor mir, als wären sie von gestern. Mit jedem Jahr wuchs das Bedürfnis, meine Erlebnisse und Beobachtungen niederzuschreiben und nun gibt mir das reiche Material, das ich gesammelt habe, die schönsten und trostreichsten Stunden meines im Alter so einsam gewordenen Lebens. Es sind Feierstunden für mich, wenn ich die Aufzeichnungen zur Hand nehme und oft mit einer stillen Träne oder einem verhaltenen Lächeln darin blättere. Dann bin ich nicht mehr allein, sondern in guter und lieber Gesellschaft. Vor meinem geistigen Auge ziehen sieben Dezennien voll Sturm und Drang vorbei, wie in einem Kaleidoskop, und die Vergangenheit wird lebendige Gegenwart: die heitere, sorglose Kindheit im Elternhause, in späteren Jahren ernstere Bilder, Trübsal und Freude aus dem Leben der Juden von damals und so manche Szene aus meinem eigenen Hause. Diese Erinnerungen helfen mir über einsame, schwere Stunden, über die Bitterkeit der Enttäuschungen des Lebens hinweg, die wohl keinem Menschen erspart bleiben.
In solchen Stunden schleicht sich auch die Hoffnung in das alte Herz, daß es vielleicht auch für andere keine vergebene Arbeit ist, wenn ich vergilbte Blätter über die wichtigeren Ereignisse, die gewaltigen Veränderungen im kulturellen Leben der jüdischen Gesellschaft in Litauen der 40-50er Jahre des vorigen Jahrhunderts, von denen auch ich betroffen wurde, sorgfältig gesammelt habe. Vielleicht interessiert es die Jugend von heute, zu erfahren, wie es einmal war. Und wenn ich auch nur einem meiner Leser etwas gegeben habe, bin ich reichlich belohnt.
Ich bin im Anfang der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts in der litauischen Stadt Bobruisk geboren. Von streng religiösen Eltern, klugen, geistig vornehmen Menschen erzogen, könnte ich die Wandlung verfolgen, die das jüdische Familienleben durch die europäische Bildung erfahren hat, und mich überzeugen, wie leicht unsern Eltern die Erziehung der Kinder wurde, und wie schwer diese Aufgabe uns, der zweiten Generation, war. Wir machten uns mit der deutschen und polnischen Literatur bekannt, studierten mit großem Eifer die Bibel und Propheten, die uns mit Stolz auf unsere Religion und Tradition erfüllten und mit unserem Volk innig verbanden. Ihre Poesie prägte sich dem unberührten Kindergemüt tief ein und gab der Seele für die kommenden Tage Keuschheit und Reinheit, Schwung und Begeisterung.
Aber wie schwer erging es uns nun in der großen Übergangszeit der 60er und 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts! Wir hatten uns wohl einen gewissen Grad der europäischen Bildung angeeignet; aber wir fühlten überall die klaffenden Lücken. Wir ahnten, daß noch höhere Stufen zu ersteigen wären, und suchten mit Anspannung unserer Kräfte, das Fehlende und an uns Versäumte bei unsern Kindern nachzuholen. Aber wir verloren leider in dem übergroßen Eifer das letzte Ziel und vergaßen die Weisheit des Maßhaltens. So tragen wir selbst Schuld an der Kluft, die zwischen uns und unsren Kindern entstand, an ihrer Entfremdung vom Elternhause, die folgen mußte.
Während uns der Gehorsam, den wir nach den Geboten unseren Eltern schuldig sind, heilig und unverletzbar war, mußten wir jetzt unseren Kindern gehorchen, uns vollständig ihrem Willen unterordnen. Wie einst unseren Eltern gegenüber, hieß jetzt die Parole unsern Kindern gegenüber: schweigen, still sein, fein den Mund halten, und wenn es noch so schwer, vielleicht noch schwerer wurde, als einst! Wenn wir andächtig und voll Ehrfurcht zuhörten, da unsere Eltern von ihren Erlebnissen und Erfahrungen erzählten, schweigen und lauschen wir jetzt voll Freude und Stolz, wenn unsere Kinder von ihrem Leben und ihrem Ideale sprechen. Diese Unterwürfigkeit, die Bewunderung, die wir für unsere Kinder haben, macht sie zu Egoisten, zu unseren Tyrannen – das ist die Kehrseite der Medaille der europäischen Kultur bei uns Juden in Rußland, wo sonst kein anderer Stamm so rasch und unwiderruflich mit der Annahme der westeuropäischen Zivilisation alles aufgab und alle Erinnerungen an die Vergangenheit, seine Religion verließ, und alle Tradition von sich abschüttelte.
Unsere Kinder hatten es leichter als wir, eine hohe Bildungsstufe zu erreichen, und wir sahen das mit Freude und Genugtuung, denn wir haben ihnen oft mit schweren Opfern die Wege geebnet und Hindernisse beseitigt. Sie fanden alles bereit: Erzieherinnen, Kindergarten, Jugendbibliotheken, Kindertheater, Feste und angemessene Spiele, indes uns der Hof des Elternhauses alles ersetzen mußte, wo wir uns wahllos mit den armen Nachbarskindern herumtummelten und, die Röckchen über die Köpfe gezogen, hüpften und sangen:
»Gott, Gott, gib Regen —
Der kleinen Kinder wegen!«
Welcher Unterschied!
Alle diese Wandlungen habe ich hier zu schildern versucht.
Ich bitte die Leser um Nachsicht. Ich bin keine Schriftstellerin und mag auch nicht als solche erscheinen. Ich bitte nur, diese Aufzeichnungen als das Werk einer alten Frau anzusehen, die einsam in der Dämmerung ihres stillen Lebensabends schlicht erzählt, was sie in einer ereignisvollen Zeit erlebt und erfahren.
Ich weiß, daß meine Familienchronik ohne Zweifel der Jugend in unseren Tagen wie mit dichtem Schimmel oder mit einer dicken Staubschicht bedeckt erscheinen wird. Und doch hoffe