Er hat unsere Gefangenschaft redlich geteilt, und da er durch die Kenntnis der französischen Sprache oft zum Vermittler gewählt wurde, so bot sich ihm auch Gelegenheit, sich den Gefangenen nützlich zu erweisen; und die hat er ergriffen und sich immer unzweideutig auf unsere Seite gestellt, was man leider nicht von allen sagen konnte, die des Französischen mächtig waren.
Das gute Klima und der Ueberschuß an Gesundheit, den wir alle mitbrachten, verhinderte noch damals das Auftreten von Epidemien, wie sie bald in Frioul und später in besonderer Schärfe in Casabianda uns bedrohten. Immerhin gab es Kranke genug. Dr. Heller und ich teilten uns in die Behandlung. Die französischen Aerzte taten nichts für uns. Von dem einen habe ich schon gesprochen; der andere war ein ganz schneidiger Bursche. Um seine tiefwissenschaftliche Art zu kennzeichnen, will ich kurz von seiner ärztlichen Tätigkeit berichten. Die erste Meinung, welche der Menschenfreund äußerte, war, die Brunnen sollten geschlossen werden. Er hielt den Ausschank von Wasser an die „boches“ durchaus für Luxus. Dann schlug er einem im Vorübergehen die Mütze vom Kopf, sagte einem anderen, welcher um die Bewilligung von Decken für die Gefangenen bat, daß Decken für solche Banditen überflüssig seien. Er fand das Essen als Völlerei und schritt nach solchen Vorbereitungen zur ärztlichen Untersuchung. Wie immer gab es einige Harmlose, die ihn wirklich konsultierten. Den ersten, einen alten Herrn mit Blasenkatarrh, fuhr er an: „Sie sind ein Schwein“; dann ertönte sein Kommando: Die Zunge herausstrecken! Aus dem Befund diagnostizierte er mit tödlicher Sicherheit, daß ein Blasenleiden nicht vorliege. Von nun an nahm er sich nicht so ausgedehnte Zeit zu weiterer Untersuchung. Die Patienten mußten schon mit ausgestreckter Zunge herantreten, und da diese meist reinlich war und keine Zeichen von Ueberfütterung des Magens aufwies, so trieb er schnell seine Opfer davon und strich sie aus den Listen der Kranken. Damals stand noch nicht Gefängnis auf solcher Krankmeldung, wie später; aber verdient hätten sie es. So schlug der Herr im Gebiete der Schnelluntersuchung wohl den äußersten Rekord. Ich sah dem tüchtigen Kollegen von der Galerie aus bewundernd zu, und als ich mich auf einen Augenblick in das Zimmer verfügte und wieder heraustrat, war die Diagnose bei zwölf Kranken gestellt. Zu einigen Krätzekranken sagte er: „Ihr seid Wilhelms Söhne!“ Ich habe unter den französischen Aerzten in unserem Lager die besten und die schlechtesten kennengelernt; auch ein Ungeheuer war unter ihnen, dem ich später noch ganze Kapitel widmen muß und das die französische Regierung gern zu den Geisteskranken geworfen hätte. Als später noch Dr. Vosselmann in unser Lager kam, traten wir zu dritt in die Organisation der Krankenbehandlung ein. Sergeant Bonel hatte uns drei Aerzten das Casimirzimmer eingeräumt und den größeren, etwas dunklen Kuppelraum außerhalb des Gefängnisses als Hospital sowie einen kleinen Schuppen am Meere als Infektionsstation übergeben. Das war sehr dankenswert von unserem braven Sergeanten, und da er uns Aerzten noch laissez-passer ausstellte, die Erlaubnis, uns zu jeder Zeit frei auf der Insel zu bewegen, so wurde unsere Lage recht erträglich. Ich bin in den letzten Besprechungen schon der Zeit vorausgeeilt und wende mich zurück zum Tage neuer Einquartierung.
Am 10. September erfuhren wir, daß wir am Abend den Einzug von 130 neuen Gästen zu erwarten hätten. Wir sahen Kommissäre und Offiziere geschäftig hin und her wandern, alle Räume durchstöbern, um zu erkunden, wo ihre Unterbringung möglich wäre. Selbst das Prison des condamnés politiques wurde einer eingehenden, langdauernden Untersuchung unterzogen. Ich habe dieses im Anfang des genaueren geschildert. Kot und Abfälle lagen dort herum; der Raum war dunkel und stank nach Urin und verschimmelten und verdorrten Kadaverteilen. Der Boden war aufgewühlt, staubig, lehmig; jede Berührung des Bodens trieb den bazillengeschwängerten Staub in die Höhe. Daß dort Menschen untergebracht werden sollten, war ja ganz undenkbar. Ein Schweinestall, der monatelang nicht ausgemistet war, erschien palastartig gegen diesen Raum.
Nachmittags hielten wir auf der Galerie Versammlung ab über eventuelle Maßnahmen für den Empfang der neuen Ankömmlinge. Und nun ereignete sich etwas, was in seiner Tragikomik allen unvergeßlich bleiben wird. Es trat als Redner auf Herr Julius Meyer, welcher auch sonst zündend und reichlich lange zu sprechen pflegte. Dieser setzte uns in bewegten Worten auseinander, daß aus den Besichtigungen der unteren Räume, die nun einige Tage hintereinander sich wiederholt hätten, erleuchte, daß diese Räume den Erwarteten als Unterkunft angewiesen werden sollten. Im Namen der Humanität wende er sich gegen die Möglichkeit solcher Maßnahmen. Die Aerzte müßten zugeben, daß ein Wohnen in solchen Räumen Todesgefahr berge (wir gaben das unbedingt zu); im Namen der Humanität fordere er von den beiden Aerzten, daß sie sofort vorstellig würden, dergleichen Ungeheuerlichkeiten zu vermeiden. Im Namen der Humanität fordere er von uns allen, daß wir zusammenstehen, und im Falle, daß die französische Regierung wirklich derart Gefangene unterbringen wollte, auch zusammenrückten und die armen Opfer in unseren Zimmern aufnähmen, und ob wir gleich wie die Heringe zusammengepreßt würden. Im Namen der Humanität. Dixi!
Die Rede war schwung- und wirkungsvoll und verfehlte nicht tiefsten Eindruck. Armer Julius Meyer! Es kommt manchmal so ganz anders, und das Tragische liegt so nahe beim Komischen. Die Wirkung, die die Rede gehabt und die sicher die Bewilligung der geforderten Opfer zur Folge gehabt hätte, wurde zunichte durch den lakonischen Befehl, welcher von draußen zu uns drang: Sämtliche Deutsche haben sofort die oberen Zimmer