Elisabeth dachte eine Sekunde nach.
»Ja, das ist wohl auch klüger, und ich möcht' es auch, aber ich kann nicht. Es ist wie eine Angst in mir, daß mir etwas von all dieser Schönheit entrinnen und daß ich's dann nie mehr einholen könnte.«
Der Oberst nickte.
»Das ist die Jugend mit ihrer schönen Zügellosigkeit! Mädel, Du weißt gar nicht, wie gut Du's hast, daß Du in Deinen jungen Jahren Italien auf- und abkutschieren darfst. Ich hab's nicht so gut gehabt!«
»Du warst aber doch schon als junger Mensch einmal hier!«
Die Augen des Obersten leuchteten auf.
»Ja, freilich, als ganz junger Dachs mit ein paar mühselig ersparten Kröten. Für acht Tage in einem italienischen Beisel hat's gereicht! Aber was waren das für acht Tage! Herrgott, was für Tage! Damals war man eben jung und genau so verrückt wie Du heut, obgleich ich für mein Mittagessen nicht so viel zahlen konnte, wie wir heute hier für eine Flasche Selterwasser.
Aber Venedig bleibt immer Venedig, und wie man's erreicht, ist schon ganz gleichgültig, wenn man's nur erreicht!
Aber sag', Liesel, willst Du nun immerfort am Fenster stehenbleiben und das schöne Frühstück kalt werden lassen?«
»Ich habe gar keinen Hunger!«
»Ach was, keinen Hunger! Der Mensch muß ordentlich frühstücken, immer und in allen Lebenslagen, hauptsächlich auf Reisen! Also mach' keinen Unsinn, komm her und trinke Deinen Tee!«
Elisabeth trat lächelnd vom Fenster zurück und setzte sich ihrem Vater gegenüber an den Frühstückstisch, auf dem alles stand, was ein erstes Hotel zum Déjeûner complet serviert. Sie trug kein Morgenkleid, sondern war schon wieder wie gestern zum Ausgehen fertig, aber trotz der Ungeduld, die sich in dieser morgendlichen Bereitschaft verriet, und trotzdem sie behauptet hatte, daß sie gar keinen Hunger habe, aß sie jetzt doch mit dem Appetit ihrer Jugend, so daß der Vater lange vor ihr fertig war und sich in das Studium der deutschen Zeitung versenkte, die er gestern abend gekauft hatte. Elisabeth las indes im Bädeker nach, was man gestern gesehen hatte oder heute sehen konnte. Als der Oberst seine Zeitung zu Ende gelesen hatte, fragte er:
»Also, wie war doch das Programm für heute? Wenn ich mich recht erinnere, vormittags die Gemäldesammlung im Palazzo Priuli, dann San Zaccaria und San Giovanni e Paulo, und nachmittags nach Chioggia. Das alles aber natürlich nur, wenn es Dich nicht müde macht!«
Elisabeth schüttelte den Kopf. Nein, hier war sie nie müde. Befand sich immerfort in einer leisen, köstlichen Erregung. Es war ihr, als ob ihr Körper gar keine Schwerkraft mehr besäße, sondern gleich einem leuchtenden, durchsichtigen Vogel von Schönheit zu Schönheit flog, immer höher und höher in eine blaue, unnennbare Ferne hinein, in der es nichts mehr gab als Seligkeit.
Jeder junge, empfindsame Mensch, der zum erstenmal italienischen Boden betritt, kennt den romanischen Rausch, in dem der Germane und Nordländer seine Geistesschwere vergißt und mit Staunen sieht, wie schön eine Welt sein kann, in der es kein Regenwetter und keine abgrundtiefen Probleme gibt. Wenn Elisabeth diesen Rausch stärker empfand als die meisten anderen, so war's vielleicht, weil sie die Sehnsucht ihrer ganzen Familie im Blute trug, weil die Schöttlings, dies verarmte bayerische Adelsgeschlecht, ihrem Drang und ihrem Wesen nach Künstler waren, wenn sie gleich aus Standes- und Sparsamkeitsrücksichten immer wieder den Offiziersberuf wählten. Nur einer von ihnen, Peter von Schöttling, der ums Jahr 1830 herum lebte, hatte, weil er ein ungewöhnliches Talent war, seiner großen Leidenschaft folgen und Maler werden können. Er hatte mit König Ludwig I. die Italienreise gemacht, war ein Freund Rottmanners gewesen, und die alte Pinakothek in München bewahrt noch ein paar im Stil seiner Zeit gemalte treffliche Landschaften von ihm. Das war aber auch der einzige, der seine Sehnsucht hatte ausleben dürfen; bei den anderen reichte weder das Können noch das Geld, und sie wurden Soldaten, weil sie im Kadettenkorps einen halben Freiplatz bekamen, und weil ihre Väter immer gerade noch die dreißig Mark Zulage für ein Infanterieregiment aufbringen konnten.
Weil sie allesamt Künstlernaturen waren, heitere oder versonnene Idealisten, lag die ewige Geldmisere nicht gar zu schwer auf ihnen; sie träumten wohl davon, wie schön das sein müßte, wenn man so leben könnte, wie der Peter von Schöttling gelebt hatte, dilettierten wohl auch in ihren Mußestunden ein wenig mit Pinsel und Palette herum, aber dann gingen sie auch wieder als brave Soldaten zum Dienst und taten ihre Pflicht, wenn auch keiner von ihnen eine Leuchte der Strategie oder des Kriegshandwerks wurde.
Seltsam und tragikomisch war es, daß diese Menschen, die so gerne von den Notwendigkeiten des Lebens gar nichts gewußt hätten, durch die Verhältnisse gezwungen waren, diesen Erbschaftsprozeß zu führen, der in der Tat bis zu einem der bayerischen Kurfürsten zurückreichte und sich um Millionenliegenschaften drehte. In diesem Prozeß stritten zwei Linien Schöttling gemeinsam gegen eine dritte, die sich jene Liegenschaften kraft irgendeiner unklaren Ehe angemaßt hatte, stritten mit ihr über ein Jahrhundert hinweg mit einer Ausdauer, einer Zähigkeit und einer Empörung, als ob sie allesamt die zwei Ur-Schöttlinge wären, die den Erbschaftsprozeß zuerst angefangen hatten. Geschlechter kamen, liebten, haßten, hofften, alterten und starben, – aber der Prozeß dauerte fort. Jede Hoffnung begann bei ihnen mit den Worten: »Wenn wir den Prozeß erst gewonnen haben …«, und jede Entsagung senkte grimmig das Haupt: »Ja, wenn wir den Prozeß schon gewonnen hätten …« Der Prozeß war schließlich wie ein unsichtbares, aber lebendiges Wesen geworden, das mit ihnen ihre Tage teilte, sie erfüllte, umzingelte, jeder Süße und jeder Bitternis seinen Namen lieh. Und doch dachten die wenigsten von ihnen, die da verbissen von Instanz zu Instanz stritten, an unerhörte materielle Genüsse, an Luxus und Verschwendung, die ihnen aus dem endlich erreichten Schatz kommen sollten. Sie stritten, weil ihnen der Prozeß vererbt war wie eine Charaktereigenschaft, und weil in ihnen allen die Sehnsucht Peter von Schöttlings trieb, die endlich einmal vom halben Freiplatz im Kadettenkorps und im Infanterieregiment befreit sein wollte, um das Leben in Schönheit und Kunst zu leben, von dem Geschlecht auf Geschlecht vergebens träumte. Auch der Oberst Schöttling hatte in seinen Knabenjahren gemeint, daß der Prozeß wohl gewonnen sein würde, bis er das Kadettenkorps verließ, und daß er dann für Jahre hinunterziehen dürfte nach Italien, um Maler zu werden, wie's der Vorfahre gewesen war. Aber auch ihm ging's nicht anders wie den andern, denn die Entscheidung des Prozesses verzögerte sich immer noch, nur die dreißig Mark Zulage blieben. Weil der Leutnant Schöttling aber von Hause aus ein gescheiter Mensch und obendrein halb und halb ein Sohn der neuen Zeit war, die vom Träumen und Sehnen nicht mehr gar so viel wissen mochte, kam er über den Durchschnitt hinaus, wurde Geschichtslehrer an der Kriegsakademie, erreichte es, daß er in den Stab kam, und schien bestimmt zu sein, eine große oder wenigstens sehr gute Karriere zu machen. Da kam aber bei ihm doch wieder die künstlerische Unbedachtsamkeit zutage, er verlobte sich mit einem blutarmen Mädchen, das geduldig mit ihm wartete, bis er als Hauptmann sie heiraten konnte. Rasch nacheinander kamen vier Kinder, unter ihnen drei Söhne, deren Existenz sich abermals auf den halben Freiplatz im Kadettenkorps und die dreißig Mark Zulage aufbaute. Dann begann die Frau zu kränkeln, Aerzte und Badereisen zu bedürfen, und alles, was sonst an die Hausfrau und Mutter kam, legte sich nun auf die Schultern der jungen Elisabeth. Eine wegen beiderseitiger Armut aussichtslose Neigung zu einem Leutnant im Regiment ihres Vaters warf die ersten tieferen Schatten über ihre Seele und ihr Gesicht, und die Jahre, die nachkamen, hielten mit feinen, mit ganz feinen Linien den Umriß der Schatten fest. Die Mutter starb, für den Vater war es Zeit, in Pension zu gehen, und er siedelte aus der teueren Pfalzgarnison, in der sie zuletzt gestanden hatten, nach München über, weil Elisabeth, die ein hübsches, wenn auch nicht aufsehenerregendes Talent besaß, Malerin werden wollte. Sie studierte fleißig in einer Malschule ganz moderner Richtung, bekam durch ihren guten Namen und mancherlei Beziehungen von früher her auch allerlei Aufträge für Kinderportraits oder Kopien, aber sie fühlte doch bald, daß ihre Begabung nicht ausreichte, um ihrem Leben einen Inhalt zu geben, wenngleich sie natürlich die Einnahmen, die ihr die Bilder brachten, nicht hätte missen mögen. Denn das billige München war unaufhaltsam teurer geworden, die drei Brüder reichten schon lange nicht mehr mit