Friedrich Nietzsche in seinen Werken. Andreas-Salomé Lou. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andreas-Salomé Lou
Издательство: Public Domain
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Жанр произведения: Зарубежная классика
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weiter in seine letzte Tiefe und in seinen Untergang.

      Diese Grundzüge von Nietzsches Eigenart enthalten die Ursachen des zugleich Raffinirten und Exaltirten, das auch dem Grossen und Bedeutenden in seiner Philosophie beigemischt ist gleich einer brennenden Würze. Am schärfsten wird es wohl von der unverdorbenen Zunge junger und gesunder Geister herausgeschmeckt werden, – oder auch von denen, die, im ruhigen Frieden glaubensvoller Anschauungen geborgen, niemals den ganzen furchtbaren Kampf und Brand eines religiös veranlagten Freigeistes am eignen Leibe erfahren haben. Aber es ist auch dasjenige, was Nietzsche in so hohem Masse zum Philosophen unserer Zeit hat werden lassen. Denn in ihm hat typische Gestalt gewonnen, was sie in ihrer Tiefe bewegt: jene »Anarchie in den Instincten« schöpferischer und religiöser Kräfte, die zu gewaltig nach Sättigung begehren, um sich mit den Brosamen begnügen zu können, welche vom Tisch der modernen Erkenntniss für sie abfallen. Dass sie sich nicht mit ihnen begnügen können. aber ebensowenig ihre Stellung zur Erkenntniss preisgeben, – gleich unersättlich im leidenschaftlichen Verlangen wie unermüdlich im Darben und Entbehren, – das ist der grosse und erschütternde Zug im Bilde der Philosophie Nietzsches. Das ist es auch, was sie in immer neuen Wendungen zum Ausdruck bringt: – eine Reihe von gewaltigen Versuchen, dieses Problem moderner Tragik, das Räthsel der modernen Sphinx zu lösen und sie in den Abgrund zu stürzen.

      Aber deshalb ist es eben der Mensch und nicht der Theoretiker, auf den wir unsern Blick richten müssen, um uns in den Werken Nietzsches zurechtzufinden, – und deshalb wird auch der Gewinn, das Resultat unserer Betrachtung nicht darin bestehen, dass uns ein neues theoretisches Weltbild in seiner Wahrheit aufgeht, sondern das Bild einer Menschenseele in ihrer Zusammensetzung von Grösse und Krankhaftigkeit. Zunächst scheint die philosophische Bedeutung in Nietzsches Wandlungen dadurch abgeschwächt zu werden, dass sich jedesmal genau derselbe innere Process abspielt. Aber sie wird vertieft und verschärft, weil der Wechsel der Ansichten immer wieder auf das Wesen übergreift. Nicht nur die äusseren Umrisslinien einer Theorie sind jedesmal verändert, sondern die ganze Stimmung, Luft, Beleuchtung wandelt sich mit ihnen. Während wir Gedanken einander widerlegen hören, sehen wir Welten versinken, neue Welten emporsteigen. Gerade hierauf beruht die wahre Originalität des Nietzscheschen Geistes: durch das Medium seiner Natur, die Alles auf sich und ihre intimsten Bedürfnisse bezieht, aber sich auch an Alles hingebend verliert, erschliessen sich ihm jene inneren Erlebnisse und Ergebnisse von Gedankenwelten, die wir sonst nur mit dem Verstände streifen, ohne sie jemals in ihren Tiefen auszuschöpfen und ohne daher an ihnen schöpferisch zu werden. Theoretisch betrachtet, lehnt er sich häufig an fremde Muster und Meister an, aber das, worin diese ihre Reife, ihren Productionspunkt haben, wird ihm nur zum Anlass, daran zu eigner Productivität zu gelangen.13 Die geringste Berührung, die sein Geist empfand, genügte, um in ihm eine Fülle innern Lebens, – Gedanken-Erlebens, auszulösen. Er hat einmal gesagt: »Es gibt zwei Arten des Genie's: eins, welches vor allem zeugt und zeugen will, und ein andres, welches sich gern befruchten lässt und gebiert.« (Jenseits von Gut und Böse 248.) Zweifellos gehörte er der letzteren Art an. In Nietzsches geistiger Natur lag – ins Grosse gesteigert – etwas Weibliches;14 aber er ist darin in einem solchen Masse Genie, dass es fast gleichgiltig erscheint, woher er die erste Anregung empfängt. Wenn wir alles zusammenlesen, was sein Erdreich befruchtet hat, dann haben wir einige unscheinbare Samenkörner vor uns: wenn wir in seine Philosophie eintreten, umrauscht uns ein Wald schattenspendender Bäume, umfängt uns die verschwenderische Vegetation einer wildgrossen Natur. Seine Ueberlegenheit bestand darin, dass er jedem Samenkorn, welches in sein Inneres fiel, entgegenbrachte, was er selbst als das Kennzeichen des echten Genies anführt: »den neuen, treibenden Fruchtboden mit einer urwaldfrischen unausgenutzten Kraft.« (Der Wanderer und sein Schatten 118.)

      II. ABSCHNITT

      SEINE WANDLUNGEN

      MOTTO:

      »Die Schlange, welche sich nicht

      häuten kann, geht zu Grunde. Ebenso

      die Geister, welche man verhindert,

      ihre Meinungen zu wechseln; sie hören

      auf, Geist zu sein.«

      (Morgenröthe 573)

      Die erste Wandlung, die Nietzsche in seinem Geistesleben durchkämpfte, liegt weit zurück in der Dämmerung seiner Kindheit oder doch wenigstens seiner Knabenjahre.

      Es ist der Bruch mit dem christlichen Kirchenglauben. In seinen Werken findet diese Trennung selten Erwähnung. Trotzdem kann sie als der Ausgangspunkt seiner Wandlungen angesehen werden, weil schon von ihr aus ein charakteristisches Licht auf die Eigenart seiner Entwicklung fällt. Seine Aeusserungen über diesen Gegenstand, den ich besonders eingehend mit ihm besprochen habe, betrafen hauptsächlich die Gründe, welche den Glaubensbruch hervorrufen. Weitaus die meisten religiös veranlagten Menschen werden erst durch intellectuelle Gründe dahin gedrängt, sich in schmerzlichen Kämpfen von ihren Glaubensvorstellungen loszusagen. Wo aber, in selteneren Fällen, die erste Entfremdung vom Gemüthsleben selbst ausgeht, da ist der Process ein kampfloser und schmerzloser; der Verstand zersetzt nur, was schon vorher abgestorben, – eine Leiche war. In Nietzsches Fall fand eine eigenthümliche Kreuzung dieser beiden Möglichkeiten statt: weder waren es nur intellectuelle Gründe, die ihn ursprünglich von den anerzogenen Vorstellungen frei machten, noch auch hatte der alte Glaube aufgehört, den Bedürfnissen seines Gemüths zu entsprechen. Vielmehr betonte Nietzsche immer wieder, dass das Christenthum des elterlichen Pfarrhauses seinem inneren Wesen »glatt und weich« angelegen habe – »gleich einer gesunden Haut«, und dass ihm die Erfüllung all seiner Gebote so leicht geworden sei wie das Befolgen einer eignen Neigung. Dieses gleichsam angeborene, unveräusserliche »Talent« zu aller Religion hielt er für eine der Ursachen der Sympathie, die ihm ernste Christen selbst dann noch entgegenbrachten, als er bereits durch eine tiefe Geisteskluft von ihnen getrennt war.

      Der dunkle Instinct, der ihn hier zum ersten Mal aus lieb und theuer gewordnen Gedankenkreisen forttrieb, erwachte grade in diesem Heimathsgefühl, in diesem warmen »Zu Hause«, von dem sich Nietzsches Wesen darin umfangen fühlte. Um in machtvoller Entwicklung zu sich selbst zu gelangen, bedurfte sein Geist der seelischen Kämpfe, Schmerzen und Erschütterungen, – er bedurfte dessen, dass sein Gemüth sich die Trennung von diesem ruhigen Friedenszustand anthat, weil seine Schaffenskraft von der Emotion und Exaltation seines Innern abhängig war: hier tritt uns die Erscheinung des Schmerzheischenden in der »Decadenten-Natur« zum ersten Mal in Nietzsches Leben entgegen.

      »Unter friedlichen Umständen fällt der kriegerische Mensch über sich selbst her,« (Jenseits von Gut und Böse 76) und verbannt sich selbst in eine Gedankenfremde, in der er von nun an zu einem ewigen Wandern ohne Rast und Ruhe bestimmt ist. Aber in dieser Rastlosigkeit lebt von nun an eine unersättliche Sehnsucht in Nietzsche, die nach dem verlorenen Paradies zurückstrebt, während seine Geistesentwicklung ihn zwingt, sich in grader Linie immer weiter davon zu entfernen.

      Im Gespräch über die Wandlungen, die schon hinter ihm lagen, äusserte Nietzsche einmal halb im Scherz: »Ja, so beginnt nun der Lauf und wird fortgesetzt, – bis wohin? wenn Alles durchlaufen ist, – wohin läuft man alsdann? Wenn alle Combinationsmöglichkeiten erschöpft wären, – was folgte dann noch? wie? müsste man nicht wieder beim Glauben anlangen? Vielleicht bei einem katholischen Glauben?« Und der Hintergedanke, der sich in dieser Aeusserung verbarg, trat in den ernst hinzugefügten Worten aus seinem Versteck:

      »In jedem Fall könnte der Kreis wahrscheinlicher sein als der Stillstand.«

      Eine in sich selbst zurücklaufende, niemals stillstehende Bewegung, – das ist in Wahrheit das Kennzeichen der ganzen Geistesart Nietzsches. Die Combinationsmöglichkeiten sind keineswegs unendlich, sind im Gegentheil sehr begrenzt, da der vorwärts treibende, selbstverwundende Drang, der die Gedanken nicht zur Ruhe kommen lässt, ganz und gar der innern Eigenart der Persönlichkeit entspringt: so weit auch die Gedanken zu schweifen scheinen, so bleiben sie doch stets an die gleichen Seelenvorgänge gebunden, die sie immer wieder zurück unter die herrschenden Bedürfnisse zwingen. Wir werden sehen, inwiefern Nietzsches Philosophie in der That einen Kreis beschreibt, und wie zum Schlüsse der Mann in einigen


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Auch wenn man von denjenigen Denkern absieht, welche die verschiedenen Phasen von Nietzsches Entwicklung direct bestimmt haben, lassen sich viele seiner Gedanken schon bei früheren Philosophen nachweisen. Auf diese für die wahre Bedeutung Nietzsches durchaus unwesentliche Thatsache ist neuerdings mit dem grössten Lärm von Leuten hingewiesen worden, denen lediglich der Zufall das eine oder andere philosophische Buch in die Hände gespielt hat. In der vorliegenden Schrift ist absichtlich auf die Stellung Nietzsches in der Geschichte der Philosophie kein Bezug genommen, da dies eine eingehende systematische Prüfung seiner einzelnen Theorien auf ihren objectiven Werth zur Voraussetzung haben würde, was einer besonderen Arbeit Vorbehalten bleiben muss.

<p>14</p>

Manchmal, wenn er dies besonders empfand, war er geneigt, das weibliche Genie als das eigentliche Genie zu nehmen. »Die Thiere denken anders über die Weiber, als die Menschen; ihnen gilt das Weibchen als das productive Wesen… Die Schwangerschaft hat die Weiber milder, abwartender, furchtsamer, unterwerfungslustiger gemacht; und ebenso erzeugt die geistige Schwangerschaft den Charakter des Contemplativen, welcher dem weiblichen Charakter verwandt ist: – es sind die männlichen Mütter. – « (Die fröhliche Wissenschaft 72.)