Friedrich Nietzsche in seinen Werken. Andreas-Salomé Lou. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andreas-Salomé Lou
Издательство: Public Domain
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Жанр произведения: Зарубежная классика
Год издания: 0
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auch in der »Fröhlichen Wissenschaft« (249) der Aphorismus wieder, der die Ueberschrift trägt: »Der Seufzer des Erkennenden«: »Oh über meine Habsucht! In dieser Seele wohnt keine Selbstlosigkeit, – vielmehr ein Alles begehrendes Selbst, welches durch viele Individuen wie durch seine Augen sehen und wie mit seinen Händen greifen möchte, – ein auch die ganze Vergangenheit noch zurückholendes Selbst, welches nichts verlieren will, was ihm überhaupt gehören könnte! Oh über diese Flamme-meiner Habsucht! Oh dass ich in hundert Wesen wiedergeboren würde!«

      Auf diese Weise wird das Umfassende und Verschlungene der unharmonischen, der »stillosen« Natur zu einem gewaltigen Vorzug: »Wollten und wagten wir eine Architektur nach unserer Seelen-Art… so müsste das Labyrinth unser Vorbild sein!« (Morgenröthe 169.) – aber kein Labyrinth, in welchem die Seele sich selbst verliert, sondern aus dessen Wirrnis sie zur Erkenntniss hindurchdringt. »Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können«, – dieses Wort Zarathustras (I 15) gilt von ihr, die zum Sternendasein, zum Licht geboren ist als zu ihrem eigensten Wesensgenius, ihrer eigensten Verklärung. Nietzsche hat dies unter dem Namen: »Eine lichte Art von Schatten« geschildert (Der Wanderer und sein Schatten 258): »Dicht neben den ganz nächtigen Menschen befindet sich fast regelmässig, wie an sie angebunden, eine Lichtseele. Sie ist gleichsam der negative Schatten, den jene werfen.«

      Diese Lichtseele ist um so strahlender, je mächtiger und nächtiger, also je tyrannischer und gefährlicher die Natur ist, welche sich gleichsam in ihr verbrennen lässt, – alle ihre Neigungen als Brennstoff in diese heilige Gluth wirft. Die Art, in welcher dies geschieht, wechselt mit dem Erkenntnissstandpunkt des Erkennenden: Nietzsches Auffassung dessen, was »Erkenntnisse ist, ist in seinen verschiedenen Geistesperioden eine verschiedene, und dementsprechend verschiebt sich auch jedesmal das, was er die »innere Rangordnung der Triebe« nennt, innerhalb des wogenden Kampfes in dieser reichen Genie-Natur. Man kann sagen, dass aus den wechselnden Bildern solcher Verschiebungen sich die Geschichte seiner Entwicklung im Wesentlichen zusammensetzt, bis in seiner letzten Schaffensperiode sein ganzes Innenleben sich in philosophischen Theorien widerspiegelt: bis ihm Dunkelseele und Lichtseele zu Repräsentanten des Menschlichen und Uebermenschlichen werden.

      Der geschilderte Seelenprocess selbst aber bleibt durch alle Wandlungen hindurch in seinen Grundzügen der nämliche. »Hat man Charakter, so hat man auch sein typisches Erlebniss, das immer wiederkommt,« sagt Nietzsche (Jenseits von Gut und Böse 70). Nun, dieses ist sein typisches Erlebniss, das immer wiederkommt, an dem er sich immer wieder aufrichtete, über sich selbst erhob, – an dem er auch endlich sich in sich selbst überschlug und zu Grunde ging.

      Und daran musste er wohl zu Grunde gehen. Denn in dem gleichen Process, der ihm stets von neuem Heilung und Erhebung sicherte, lag auch schon das pathologische Moment dieser Art von Geistesentwicklung verborgen. Auf den ersten Blick fällt es nicht auf. Man sollte vielmehr meinen, in einer Kraft, die sich selber so zu heilen weiss, müsse mindestens ebensoviel Gesundheit stecken wie in dem ruhigen Frieden einer harmonischen Kräfteentfaltung. Ja, sogar eine weit grössere Gesundheit: denn sie ist im Stande, selbst an dem, was Wunden schlägt und Fieber erzeugt, sich noch zu befestigen und zu beweisen; sie ist im Stande, Krankheit und Kampf zu einem Stimulans für Leben und Erkennen umzuwandeln, zu einem Sporn und Hellsehen für ihre Zwecke, – sie umfasst also schadlos Kampf und Krankheit. Auf solche Weise wollte Nietzsche, namentlich zuletzt, namentlich als er am krankhaftesten war, seine Leidensgeschichte aufgefasst wissen: alseine Genesungsgeschichte. Allerdings vermochte diese gewaltige Natur es, sich mitten aus Schmerzen und Widerstreit heraus in ihrem Erkenntnissideal selbst zu heilen und zusammenzufassen. Aber, nach erlangter Genesung, bedurfte sie wiederum ebenso nothwendig der Leiden und Kämpfe, der Fieber und Wunden. Sie, die sich selbst Heilung geschafft, ruft jene wieder, hervor; sie wendet sich gegen sich selbst, schäumt gleichsam über, um sich in neue Krankheitszustände zu ergiessen. Ueber jedem erreichten Erkenntnissziel, jedem erlangten Genesungsglück stehen immer wieder die Worte: »Wer sein Ideal erreicht, kommt eben damit über dasselbe hinaus«, denn: »sein Ueberglück ward ihm zum Ungemach« (Fröhliche Wissenschaft, Scherz, List und Rache 47), und er fühlt sich: »verwundet von seinem Glücke«10 (Also sprach Zarathustra II 2). »Sich Schmerzen machen. Rücksichtslosigkeit des Denkens ist oft das Zeichen einer unfriedlichen inneren Gesinnung, welche Betäubung begehrt.» Menschliches, Allzumenschliches I 581.

      Die Gesundheit ist hier also nicht das Ueberlegene und Ueberragende, welches das Pathologische, als ein Nebensächliches, zu einem Werkzeug für sich umschafft, sondern beide bedingen sich, ja enthalten sich gegenseitig, – beide zusammen stellen thatsächlich eine eigenthümliche Selbstspaltung innerhalb ein und desselben Geisteslebens dar.

      Eine solche innere Spaltung liegt nämlich dem ganzen geschilderten Seelenprocess zu Grunde. Anscheinend zwar sollte in ihm die Vielspältigkeit, die Subjects-Vielheit der unharmonisch veranlagten Natur, in einer hohem Einheit, in einem richtunggebenden Ziel aufgehoben werden. Nun vollzieht sich aber dieser Vorgang innerhalb der vielspältigen Seele in der Weise, dass ein einziger Trieb sich alle übrigen unterordnet; mit anderen Worten: die Vielspältigkeit wird auf eine um so tiefer gehende Zweispaltung reducirt. So wenig wie die Gesundheit hier überragend das Krankhafte mit umfasst, so wenig umfasst und überragt der herrschende Trieb wahrhaft das gesammte Innere, indem er es in den Dienst der Erkenntniss stellt: der Erkennende blickt wohl mit seinen Geistesaugen auf sich selbst wie auf eine zweite Wesenheit, aber er bleibt doch in der eigenen Wesenheit gefangen; er ist nur im Stande sie zu spalten, nicht über sie hinauszugreifen. Die Macht der Erkenntniss also, weit davon entfernt, eine einigende zu sein, ist vielmehr eine trennende, – aber die Tiefe der Trennung erweckt den Schein, als läge das Ziel aller Regungen ausser ihnen. In Folge dieser Selbsttäuschung drängen alle Kräfte begeistert der Erkenntniss zu, als vermöchten sie damit sich selbst und ihrem Zwiespalt zu entlaufen.

      Man sollte allerdings glauben, es werde wenigstens eine Art von Zusammenschluss des Gesammtlebens dadurch erreicht, dass auf der einen Seite das Triebleben, unter dem darauf gerichteten Erkenntnissblick, zu ungeheurer Bewusstheit gesteigert wird, – dass auf der anderen das Denken durch die Welt der Stimmungen und Triebe eine ungemeine Belebung erhält. Aber das Resultat ist ein gerade entgegengesetztes, indem der Gedanke die Unmittelbarkeit aller inneren Regungen zersetzt, die Erregungen des Inneren hinwiederum die beherrschte Strenge des Gedankens beständig lockern. So durchdringt thatsächlich die Spaltung des Ganzen alles Einzelne nur immer weiter und tiefer.

      Was ist es nun, das trotzdem eine so hohe, geradezu erlösend wirkende Befriedigung aus einer so durchsichtigen Selbsttäuschung quellen lässt? Was ist es, das einen Schein dazu befähigt, das ganze Sein, wenn auch unter steten Erkrankungen und Verwundungen, zu beseligen und zu verklären? Mit dieser Frage stehen wir vor dem eigentlichen Nietzsche-Problem; sie erst weist uns auf den geheimen Zusammenhang des Gesunden und Pathologischen in ihm.

      Indem nämlich die Vielheit unverbundener Einzeltriebe sich in zwei einander gleichsam gegenüber stehende Wesenheiten zerspaltet, von denen die Eine herrscht, die Andere dient, – wird es dem Menschen ermöglicht, zu sich selber nicht nur wie zu einem anderen, sondern auch wie zu einem höhern Wesen zu empfinden. Indem er einen Theil seiner selbst sich selber zum Opfer bringt, ist er einer religiösen Exaltation nahe gekommen. In den Erschütterungen seines Geistes, in denen er das heroische Ideal eigener Preisgebung und Hingebung zu verwirklichen wähnt, bringt er an sich selbst einen religiösen Affect zum Ausbruch.

      Von allen grossen Geistesanlagen Nietzsches gibt es keine, die tiefer und unerbittlicher mit seinem geistigen Gesammtorganismus verbunden gewesen wäre, als sein religiöses Genie. Zu einer anderen Zeit, in einer andern Culturperiode würde dasselbe diesem Predigerssohn sicherlich nicht gestattet haben, zum Denker zu werden. Unter den Einflüssen unserer Zeit erhielt jedoch sein religiöser Geist die Richtung aufs Erkennen und vermochte dasjenige, wonach es ihn instinctiv am drängendsten verlangte, wie nach dem natürlichen Ausdruck seiner Gesundheit, nur in krankhafter Weise zu befriedigen, – das heisst, er vermochte es nur vermittelst einer Rückbeziehung auf sich selbst anstatt auf eine ihn mit umfassende, ausser ihm liegende Lebensmacht. So erreichte er das gerade Gegentheil des Angestrebten: nicht eine höhere Einheit seines Wesens, sondern dessen innerste Zweitheilung, nicht den Zusammenschluss aller Regungen und Triebe zu einem einheitlichen Individuum, sondern ihre Spaltung zum »Dividuum«.


<p>10</p>

Vgl. auch Jenseits von Gut und Böse 224: »wir … sind erst dort in unsrer Seligkeit, wo wir auch am meisten – in Gefahr sind.«