Ich reichte dem Uhrmacher-Buchhändler die Hand und fragte ihn:
»So lieben Sie also Ihren Vater?«
»Herr, warum fragen Sie? Kann es einen Sohn geben, welcher seinen Vater nicht liebt? Kann ein Kind seiner Eltern vergessen, denen es alles, alles zu verdanken hat?«
»Sie haben recht; meine Frage war gänzlich überflüssig. Vielleicht bekomme ich Ihren Vater zu sehen, und dann werde ich ihm ebenso einen Vers aufschreiben, wie der alte römische Katholik Ihnen aufgeschrieben hat. Und geht der Wunsch, den ich jetzt im stillen hege, in Erfüllung, so ist es mir wohl möglich, ihm und Ihnen außerdem eine recht große Freude zu machen. Bleiben Sie daheim, damit ich Sie finde, wenn ich komme! Allah jusellimak – Gott behüte Sie!«
»Fi aman Allah – in Gottes Schutz!« antwortete er, indem er meine ihm dargebotene Hand an seine Stirn drückte.
Da nahm er sein Pferd »al el meimene« – zur rechten Hand und ritt im Trabe davon.
Ich blickte ihm nach, bis er hinter fernem Strauchwerk verschwunden war, und setzte dann meinen Weg fort. Ich war noch nicht weit geritten, so sah ich etwas auf der Erde liegen, was ich an diesem Orte nicht gesucht hätte, nämlich eine richtige, wirkliche, echte und wahrhaftige Semmel, eine braune und knusperig gebackene Zeile von acht, sage acht Semmeln.
Dieses Backwerk ist von uns nach der Türkei gebracht worden, weshalb es dort vorzugsweise Frandschela, »die Fränkische« genannt wird.
Ich stieg vom Pferde und hob die Semmel auf, eine neubacken duftende Reminiszenz an die Heimat. Was mit der Achterzeile tun? Ohne mir darüber klar zu sein, brach ich ein Eckchen ab und – hielt es meinem Rappen hin. Er hatte so etwas noch nie gesehen; aber das verursachte ihm keine Skrupel. Ob Chaß etmek oder Frandschela, ob auf Deutsch Semmel oder auf Englisch roll, ob auf Französisch pain blanc oder im Italienischen piccoli pani, ob in polnischer Sprache bulka und pszenna und in serbischer pletenitza, ob auf Walachisch pune albeh oder auf Russisch bulka, grad wie auch in Ostpolen – der Rappe hatte weder sprachliche noch andere Bedenken; er prüfte mit der Nase, nahm das Eckchen und riß mir sodann die ganze übrige Zeile aus der Hand.
»Ma li hadsche fih, sufra daïme, tajib heiwan – ich brauche es nicht; gesegnete Mahlzeit, mein gutes Tier!«
Nachdem er die seltene Delikatesse verzehrt hatte, rieb er den schönen, charaktervollen Kopf an meiner Achsel, dann stieg ich auf und – — – kaum zwanzig Schritte weiter lag abermals eine Semmelzeile.
Was war das? Was hatte das zu bedeuten? Diese Art von Manna regnet es weder vom Himmel, noch wächst es auf der Manna-Esche (Fraxinus ornus) oder kriecht als Mannaflechte (Sphaerothallia esculenta) am Boden hin!
Ich stieg zum zweiten Male ab, hob den Fund auf und steckte ihn in die Satteltasche.
Kaum wieder im Sattel, sah ich von weitem wieder eine Zeile liegen. Wieder absteigen? Nein! Ich gab dem Rappen die Sporen. Er legte sich lang aus, ventre a terre; ich nahm im Ritt die Semmel vom Boden auf und – — erblickte einige Exemplare anderer Gebäckarten, an denen wir vorübersausten.
War hier ein amerikanischer Rollboy mit einem defekten Semmelwagen gefahren? Diese unternehmenden Gentlemen machen gern Geschäfte, aber so sehr weit vom heimatlichen Baker‘s oven verirren sie sich denn doch wohl nicht!
Ich nahm das Pferd wieder in langsameren Gang, und nun zeigte es sich, daß auch weiterhin der Weg in verschiedenen Intervallen mit Gebäck interpunktiert war. Welch ein gesegnetes Land, dieses Rumelien!
Ich ließ natürlich liegen, was am Boden lag, und trachtete danach, den wohltätigen Spender dieser nahrhaften Kommata zu erreichen. Ein kleines Gebüschinselchen inmitten der unbebauten Fläche – ich bog um dasselbe herum, und siehe, da stand er, der Wohltätige, und zwar in sehr irdischer Gestalt. Es war eines jener Wesen, welche von den Arabern Baghl, von den Türken Katyr, von den gelehrten Abendländern Equus hinnus und von den ungelehrten Deutschen respektwidrigerweise Maulesel genannt werden.
Ja, da stand er und – — fraß. Und was fraß er? Nicht etwa Semmeln, die doch meinem edlen Pferde so ausgezeichnet gemundet hatten, sondern Zuckerwerk, teures, süßes Zuckerwerk, wie es von den abendländischen Damen zum Nachtische geknuspert, von den orientalischen Schönen aber während des ganzen Tages zwischen den roten Lippen und schwarzen Zähnen geführt wird. Man sagt freilich verleumderischerweise, daß diese Konfitüren auch im Abendlande außerhalb des Nachtisches eingehende Beachtung finden.
Ich sprang vom Pferde, nun zum dritten Male. Der Maulesel sah erst mich an, dann den Rappen und wendete sich hernach, ganz unbefangen und keiner Schuld bewußt, zur Seite, als habe er nicht das mindeste Verständnis dafür, daß Unterschlagung und darauffolgende Verwendung im eigenen Nutzen vom Strafrichter mit unnachsichtlicher Sühne zu belegen sei. Oder verließ er sich etwa bereits auf die bekannten mildernden Umstände? Das mußte aber mir egal sein, denn selbst die absoluteste Unkenntnis der Gesetze schützt vor Strafe nicht. Ich begann also, um mich eines diplomatischen Ausdruckes zu bedienen, der Konfitürenfrage etwas näher zu treten.
Der Maulesel trug auf dem Rücken ein eigenartiges Ding, halb Pack- und halb Damensattel. Zu beiden Seiten desselben war je ein Korb befestigt gewesen, und der Inhalt dieser Körbe hatte in dem Semmel- und Zuckergebäck bestanden. Das Tier war aus irgend einer Ursache scheu geworden und durchgegangen. Die Befestigung der Körbe hatte sich während des Rennens gelockert, und ein Teil des Inhaltes war verstreut worden. Der Maulesel war auf den nicht sehr bewundernswerten Gedanken gekommen, mitten durch das Gebüsch zu brechen, und bei dieser Gelegenheit mit dem nachschleifenden Zügel hängen geblieben.
Er hing noch, ein Bild des ereilten Verbrechens. Ich war die zornige Erinnye, die rächende Eumenide; aber der Uebeltäter kaute Zuckerwerk. Bildete er sich etwa auf das Nichtvorhandensein des Dolus etwas ein? Ich hatte alle Hoffnung, ihm denselben beizubringen.
Die Körbe waren abgestreift worden und lagen am Boden, ganz in unmittelbarer Nähe von den Resten ihres einstigen Inhaltes. Ich zog dem sehr ehrenwerten Sir Aß mit der Reitpeitsche eins über das schlummernde Gewissen, so daß er ganz verblüfft zur Seite sprang und mich mit einem vorwurfsvoll fragenden Blick und einem windmühlenähnlichen Drehen seiner Ohren beglückte. Dann band ich ihn los und führte ihn zur Seite, um ihn dort noch fester anzufesseln.
Jetzt war wenigstens das übriggebliebene Backwerk gerettet. Nun drängte sich mir natürlich die Frage auf, ob der Maulesel ganz allein oder in irgend einer Begleitung seinen häuslichen Herd verlassen habe. Ich empfand einen unwiderstehlichen Geistesdrang, mich der letzteren Ansicht zuzuneigen. Und das tat ich dann mit Vehemenz.
Jetzt die weitere Frage: War die betreffende Person ein Reiter oder Fußgänger gewesen – natürlich ein »in« hinzugefügt, falls es sich um ein Femininum handeln sollte?
Weder am Sattel, noch auch sonst am Tiere war ein Merkmal zu finden, auf Grund dessen man diese Frage hätte beantworten können. Eins aber stand fest: War der Maulesel geritten worden, so hatte er den Reiter höchst wahrscheinlich abgeworfen. Wo befand sich dieser letztere?
Ich mußte zurückreiten und nach einer Spur suchen. Das tat ich ohne Zögern. Vorher hatte ich nicht achtgegeben; jetzt aber sah ich deutlich die Spuren meines Pferdes und auch diejenigen des Maulesels. Letztere Spuren führten nach einer Weile von der geraden Richtung ab, rechts hinüber nach dem Dorngestrüpp zu, aus welchem vorher, als der Sahaf sich noch bei mir befunden hatte, der dumpfe Ruf erklungen war.
Jetzt hörte ich ihn wieder. Es klang, wie bereits bemerkt, wie der Ruf eines Eingemauerten. Ich eilte näher und sprang vor dem Gestrüpp ab. Es bestand aus lauter Brombeer- und Himbeerranken und schien undurchdringlich zu sein.
»Jardym, jardym, imdad – Hilfe, Hilfe, Hilfe!«