Staatsanwalt Dr. Schweigger: Die Herren Verteidiger haben mich mißverstanden. Ich habe nicht gesagt, ich habe wegen Mordes gegen den Angeklagten nicht den geringsten Beweis, sondern ich habe gesagt: Zurzeit habe ich nicht ein genügendes Belastungsmaterial, um gegen den Angeklagten wegen Mordes die Anklage zu erheben. Die Verteidigung hat auf Verhetzungen gegen die jüdische Bevölkerung hingewiesen. Ich erwidere, daß von Zeitungen, die im jüdischen Sinne redigiert werden, ebenso gegen die christliche Bevölkerung gehetzt wird. Ich erinnere nur an die Verhetzungen gegen die Familie Hoffmann, gegen einen hochachtbaren Beamten und gegen einen hiesigen Lehrer. Der Erste Staatsanwalt ging hierauf nochmals auf die Beweisaufnahme ein und schloß: Der Verteidiger sagte: »Kann man vom Angeklagten mehr Gewissenhaftigkeit verlangen, als er bewiesen hat?« Gewiß, ich verlange mehr. Ich verlange, daß er die Wahrheit sagt, und wenn er dies tun wollte, dann mußte er sagen: »Ich habe Winter gekannt.« Ich habe die Überzeugung, Sie werden den Angeklagten schuldig sprechen; denn Recht muß doch Recht bleiben.
Verteidiger Rechtsanwalt Appelbaum: Da der Herr Erste Staatsanwalt den Vorwurf erhoben hat, daß von jüdischer Seite auch gegen die christliche Bevölkerung gehetzt worden sei, beantrage ich, den Brief zu verlesen, den ich hier dem Gericht überreiche, und dazu den Journalisten Zimmer zu vernehmen.
Vors.: Der Herr Erste Staatsanwalt hat nur von jüdischen Zeitungen gesprochen.
Verteidiger Rechtsanwalt Appelbaum: Das ist aber nicht Gegenstand der Verhandlungen gewesen. Ich wundere mich, daß der Herr Vorsitzende das zugelassen hat.
Vors.: Ich muß diesen Vorwurf zurückweisen. Es ist Gegenstand der Hauptverhandlung gewesen.
Verteidiger Rechtsanwalt Appelbaum: Mit Rücksicht auf den Korrespondenten verzichte ich auf die Vorlesung des Briefes. Nachdem aber der Erste Staatsanwalt den Vorwurf erhoben hat, daß gegen die christliche Bevölkerung gehetzt worden sei, muß ich bemerken: Ich konnte seit langer Zeit beweisen, daß die Hetze gegen die genannten christlichen Familien nicht von Juden, sondern von ausgesprochenen Antisemiten ausgegangen ist. Ich habe aber trotzdem das Material nicht verwertet, sondern ruhig zugesehen, wie Zimmer in der »Staatsbürger-Zeitung« und dem »Konitzer Tageblatt« gegen die Juden unter antisemitischem Deckmantel weiterhetzte. Es hat mir gestern in der Seele leid getan, daß ich durch die beantragte Vernehmung Zimmers gewissermaßen dessen Existenz vernichtete. Es ist aber die Pflicht des Verteidigers, das Interesse des Angeklagten wahrzunehmen. Es ist mir bekannt, daß Zimmer in der Familie Hoffmann als Freund verkehrte und trotzdem den Verdacht gegen die Familie Hoffmann erhoben hat.
Verteidiger Rechtsanwalt Sonnenfeld richtete hierauf an den Ersten Staatsanwalt die Frage, ob er Auskunft geben wolle darüber, daß die Einleitung des Verfahrens gegen Hoffmann und andere christliche Familien auf Veranlassung von Juden geschehen sei.
Erster Staatsanwalt Dr. Schweigger: Ich verweigere hierüber die Auskunft.
Verteidiger Rechtsanwalt Sonnenfeld: Dann beantrage ich, den Kriminalinspektor Braun aus Berlin hierüber zu vernehmen.
Da Braun beim Aufrufe nicht zugegen war, stellte Verteidiger Rechtsanwalt Sonnenfeld an den Ersten Staatsanwalt die Frage, ob er zugebe, daß der mehrfach genannte Stephan auch einige Zeit in seinen Diensten gestanden habe.
Erster Staatsanwalt Dr. Schweigger: Ich nehme keinen Anstand, zu erklären, daß Stephan die Behörde auf eine neue Spur aufmerksam machte, die ohne dessen Mithilfe nicht verfolgt werden konnte, deshalb war Stephan kurze Zeit im Einverständnis mit der Berliner Behörde in meinen Diensten.
Verteidiger Rechtsanwalt Sonnenfeld: Das genügt mir. Ich war erstaunt, daß der Erste Staatsanwalt jetzt besonders betonte: die Unschuld des Angeklagten am Morde sei nicht nachgewiesen, aber er habe nicht hinreichendes Material, um die Anklage wegen Mordes gegen den Angeklagten zu erheben. Es ist das eine ungewollte Stimmungsmacherei. Sie hat aber dieselbe Wirkung wie eine gewollte und erinnert an den Standpunkt des Staatsanwalts, der sagte: »Solange mir der Angeklagte nicht den Beweis liefert, daß er ein anständiger Mensch ist, halte ich ihn für einen Spitzbuben.« Der Nachweis, daß der Verdacht des Mordes gegen die Familie Lewy vorliegt, ist doch nicht geführt. Deshalb hätte der Erste Staatsanwalt so etwas nicht sagen dürfen.
Der Verteidiger ging hierauf nochmals auf die Beweisaufnahme ein und schloß: Meine Herren Geschworenen! Ich habe die Überzeugung, daß Sie sich durch keine Bemerkung in Ihrem Urteile beeinflussen lassen und die Schuldfragen verneinen werden.
Vors.: Angeklagter, haben Sie noch etwas anzuführen?
Angeklagter: Ich ersuche die Herren Geschworenen, die Schuldfragen zu verneinen. Ich habe die Wahrheit beschworen, so wahr mir Gott helfe. (Gelächter im Publikum.)
Der Vorsitzende erteilte alsdann den Geschworenen die vorgeschriebene Rechtsbelehrung und schloß: Mögen Sie nun mit Gottes Hilfe den richtigen Spruch finden. Es ist Ihnen bekannt, daß es die Pflicht des Richters ist, und, meine Herren, Sie sind auch Richter, Sie haben den Richtereid geleistet, ohne Ansehen der Person, der sozialen, politischen oder Glaubensangehörigkeit des Angeklagten zu urteilen. Seien Sie auch eingedenk, daß Sie über Ihre Handlungen dem ewigen Richter Rechenschaft schulden.
Nach halbstündiger Beratung traten die Geschworenen wieder ein. Unter gespannter Aufmerksamkeit des Publikums verkündete der Obmann Kaufmann Paul Werner, Konitz: Die Geschworenen haben die drei Schuldfragen wegen wissentlichen Meineids und die Unterfrage: ob der Angeklagte durch Bekundung der Wahrheit strafrechtliche Verfolgung befürchten konnte, bejaht. Der Erste Staatsanwalt beantragte hierauf fünf Jahre Zuchthaus, fünf Jahre Ehrverlust und dauernde Eidesunfähigkeit. Verteidiger Rechtsanwalt Sonnenfeld bat, unter Hinweis auf die vielen Verfolgungen, die die Familie Lewy zu erdulden hatte, um eine mildere Strafe. Der Angeklagte bat weinend um Milde, da er unschuldig sei. Nach kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende Landgerichtsdirektor Schwedowitz: Der Gerichtshof hat auf vier Jahre Zuchthaus, vier Jahre Ehrverlust und dauernde Eidesunfähigkeit erkannt und dem Angeklagten die Kosten des Verfahrens auferlegt. Der Angeklagte ist abzuführen. Bei der Abführung wurde dem Verurteilten zugerufen: »Adieu, Moritz!« »Viel zuwenig!« »Hättest müssen zwanzig Jahre bekommen!«
Im Juni 1901 wurde noch der Privatdetektiv Schiller vom Schwurgericht des Landgerichts Konitz wegen Verleitung zum Meineid zu einer längeren Zuchthausstrafe verurteilt. Damit hatten die Prozesse in Konitz aus Anlaß der Ermordung des Gymnasiasten Winter ihr Ende erreicht. Der Täter dieses furchtbaren Verbrechens ist bisher nicht entdeckt worden.
Der Hochverratsprozeß gegen Liebknecht, Bebel und Hepner
vom 11. bis 26. März 1872 vor dem Leipziger Bezirks-Schwurgericht
In meiner langen Berufstätigkeit habe ich keinem zweiten Prozeß als Berichterstatter beigewohnt, der auch nur entfernt an die politisch-historische Bedeutung herangereicht hat, wie dieser Hochverratsprozeß, der am 11. März 1872, also vor nunmehr 40 Jahren, vor dem Leipziger Bezirks-Schwurgericht begann.
Im Jahre 1870 war die sozialdemokratische Partei noch in zwei feindliche Lager gespalten. Zwischen dem Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Verein unter dem Präsidium des ehemaligen Frankfurter Rechtsanwalts Dr. jur. Jean Baptiste v. Schweitzer und den sogenannten »Eisenacher Ehrlichen« herrschte grimmige Fehde. Im Norddeutschen Reichstag saßen bei Ausbruch des Krieges Dr. v. Schweitzer, der Zigarrenarbeiter Fritzsche, der Lohgerber Wilhelm Hasenclever aus Halver, Westfalen; der frühere Lehrer Fritz Mende, der Kupferschmied Försterling und der Vertreter für Altona, Zigarrenarbeiter Reimer (sämtlich Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Vereins). Die sozialdemokratische Partei (Eisenacher Richtung) war durch Liebknecht und Bebel vertreten. Am 19. Juli 1870 erfolgte von dem damaligen Kaiser der Franzosen Napoleon III. die Kriegserklärung. Dies Ereignis hatte die sofortige Einberufung des Norddeutschen Reichstages zur Folge. Die Regierung verlangte eine Kriegsanleihe von 120 Millionen Talern. Der Reichstag, einschließlich der Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Vereins, bewilligten die Anleihe, nur Liebknecht und Bebel enthielten sich der Abstimmung mit folgender schriftlicher Begründung: »Der gegenwärtige