Besonders virulent wird diese Spannung zwischen Gebundenheit und gleichzeitiger Schöpfungskompetenz in der Tätigkeit des Rechtsprechens. Die Richterin begibt sich mit den bisher entschiedenen Fällen in eine »normative Unterhandlung«[392]. Sieht man sie ausschließlich verantwortlich gegenüber der entstandenen Tradition, die durch faktische Anwendung den Gehalt der anzuwendenden Begriffe konstituiert hat[393], so scheint die Entscheidungsgewalt – aufgrund der |99|Vielstimmigkeit der Tradition – wesentlich bei der gegenwärtig Richtenden zu liegen. Doch verkürzt diese Sicht: Denn berücksichtigt man den Fortgang, wird deutlich, dass die gegenwärtig Richtende auch deswegen gebunden ist, weil ihre Lesart »als Autorität für die Zukunft gelten will«[394]. Und diese Zuerkennung von Autorität kann nur gelingen, wenn die Performanz von künftig Richtenden wiederum als Teil der Tradition begriffen wird[395]. Die Verflochtenheit in das geschichtliche Netz von als richtig anerkannten Inferenzen schafft also Bindung, während es zugleich die produktive und souveräne Entscheidung der gegenwärtig bewertenden Praxisteilnehmerin anerkennt.
IV. Sanktionale Normativität
Wenn man anstelle des produzierenden Moments verstärkt den inferentiellen, also schlussfolgernden Aspekt in den Blick nimmt (ii), ergeben sich aus BrandomBrandom, Roberts Modell ebenfalls Impulse für die Theorie des Rechts. Denn die Vorstellung vom deontischen Kontoführendeontische Kontoführung lässt sich als Rekonstruktion unserer Lebensform interpretieren, und zwar als Praxis des wechselseitigen Auf-den-Fersen-Bleibens[396] über die von uns selbst und von anderen vollzogenen Verhaltensakte. Sämtliche Performanzen lassen sich, wie BrandomBrandom, Robert zeigt, im Modus der Behauptung reformulieren. Und diese Behauptungen stehen in einem Verhältnis der Folgerung zueinander: Aus Behauptungen folgen Berechtigungen und Verpflichtungen zu weiteren Behauptungen, umgekehrt fungieren Behauptungen auch als Begründung für andere Behauptungen. Diese folgernde, also inferentielle Verknüpfung scheint auf den ersten Blick vornehmlich formaler Natur zu sein: Etwa, wenn derjenige, der die Behauptung »Das hier ist purpurrot« tätigt, auch als ebenso auf die Behauptung »Das hier ist rot« festgelegt angesehen wird[397].
Doch BrandomBrandom, Robert, und das ist für die Rechtswissenschaft interessant, stellt heraus, dass die Schlussfolgerungsbeziehungen von den sanktionalen[398] Einstellungen der Akteure abhängen und durch sie zustande kommen. Die Akteure nehmen sanktionale Haltungen gegenüber den beobachteten Performanzen ein. Sofern sie einen Behauptungsakt als durch einen vorherigen Behauptungsakt gerechtfertigt behandeln, billigen sie dadurch implizit die zugrunde liegende |100|Schlussregel, saktionieren also den Sprecher positiv, indem sie ihm die Behauptung als gerechtfertigte zuweisen. Halten sie eine Behauptung – angesichts der vom Akteur bisher eingegangen Festlegungen – für nicht gerechtfertigt, so sanktionieren sie den Akt negativ, indem sie ihn als unzulässige Anschluss-Performanz behandeln. Und indem sie diese praktischen Beurteilungen vornehmen, also bestimmte Folgerungsbeziehungen als zutreffend behandeln, schaffen sie materiale Inferenzen[399]. Diese wechselseitige, sanktionale Struktur ist nun der Kern von BrandomBrandom, Roberts Modell von Normativität und Sprache: Es sind also die Sanktionseinstellungen der Akteure, die etablieren, welche Inferenzen als zulässig gelten und die durch die so etablierte Kontoführungspraxis normative Bindung generieren[400]. BrandomBrandom, Robert macht darauf aufmerksam, dass wir in unseren Alltagsverhalten laufend und unhinterfragt mit solchen materialen Inferenzen hantieren, und dass uns das logische Vokabular dabei helfen kann – das erklärt den Titel im Englischen: »Making it Explicit« –, die in diesen materialen Inferenzen impliziten Billigungen explizit und damit kritisierbar zu machen[401]. Projiziert man die Vorstellung auf das Recht so werden dadurch mehrere Assoziationen sichtbar.
Zum einen pointiert das Modell des deontischen Kontoführensdeontische Kontoführung radikal die Gemachtheit und Kritisierbarkeit materialer Inferenzen. Und dies betrifft insbesondere die rechtlichen Normen, denn sie sind stets materiale Inferenzen, sofern sie einen Sachverhalt mit einer Folge verknüpfen. Während die These von der Gemachtheit des Rechts – sieht man allein auf das Resultat – inzwischen womöglich weniger spektakulär ist, lässt sich aus der sanktionalen Macht, die dem einzelnen Akteur im Modell der Kontoführung zukommt, zum anderen auch das Regelungsvakuum erahnen, durch dessen Ausfüllung das Recht überhaupt zu legitimieren ist. Kann nämlich das Einnehmen und Ausführen von normativen Haltungen zu intransparenten und volatilen Inferenzstrukturen oder auch zu invasiven Bewertungs- und Begründungsanforderungen führen, so kommt dem Recht die Funktion zu, allgemeingültige materiale Inferenzen festzuzurren und den Bereich ihrer Anwendung zu begrenzen[402]. Durch das Recht wird für gewisse Handlungsfelder eine einheitliche Perspektive festgelegt, aus der sich allgemeinverbindlich beurteilt, was angemessene Inferenzen, das heißt gute Gründe, sind. Zugleich ist das Recht auch weniger invasiv, indem es nämlich einen Bereich markiert, in dem rechtlich relevante Gründe nur verlangt werden dürfen – und damit umgekehrt bestimmt, wann der Hinweis auf die generelle |101|Handlungsfreiheit weitere Begründung überflüssig macht sowie dadurch zugleich einen Bereich berechtigter Geheimsphären ermöglicht[403].
Neben dieser Leistungsbeschreibung an das Recht, lässt ein anderes Merkmal der Kontostruktur die Grenzen des Rechts erahnen: gemeint ist die erwähnte Vertrauensvorschuss- und Anfechtungsstruktur[404]. Zwar besteht nach dem Modell deontischer Kontoführungdeontische Kontoführung potentiell bei jeder Behauptung – so sie zu weiteren Inferenzen berechtigen soll – die Möglichkeit, nach einer Begründung für das Behauptete zu fragen, das heißt zur Explizierung der angewendeten Inferenzen aufzufordern. Doch stößt diese Modellannahme an Grenzen: Zum einen lässt sich theoretisch in der Art eines antiskeptischen Arguments in Frage stellen, ob das gleichzeitige Bezweifeln jeder Behauptung überhaupt möglich ist. Zum anderen ist es in der sozialen Situation schlicht praktisch unmöglich, alle materialen Inferenzen zu explizieren. Dies hat zur Konsequenz, dass gerade das Modell deontischer Kontoführungdeontische Kontoführung auf Vertrauen angewiesen ist. Für das Recht wird damit die Frage relevant, wie das Vertrauen, eine Person werde sich gemäß den ihr zugeschriebenen Festlegungen verhalten, zu operationalisieren ist[405].
Während BrandomBrandom, Roberts Modell implizit die Frage aufwirft, wann damit gerechnet werden kann, dass sich ein Akteur gemäß seiner Gebundenheit verhält, so lässt sich dem Modell der Kontoführung die Antwortmöglichkeit auf die vorgelagerte Frage entnehmen: Nämlich wie diese Gebundenheit überhaupt entsteht – die Frage nach der Begründung von Normativität. Wie wir sahen, lassen sich für die Schlussfolgerungsakte, über die wir die deontischen Konten führen, Gründe erfragen. Doch enden diese Frageketten in materialen Inferenzen, also solchen Inferenzen, die wir als akzeptierte behandeln. Doch wie ergeben sich solche materialen Inferenzen? Das interessante an BrandomBrandom, Roberts Konzeption liegt hier darin, dass ihm zufolge die ursprüngliche Ressource der Normativität in der sanktionalen Haltung gegenüber einer Performanz zu finden ist. Normative Relevanz gewinnen Verhaltensakte dadurch, dass sie Sanktionen nach sich ziehen. Die minimalste Sanktionseinheit ist dabei, einen Akt als berechtigt bzw. als nicht-berechtigt zu behandeln – und dadurch zu weiteren Akten berechtigend bzw. nicht-berechtigend[406]. Man kann diese Sanktionsstruktur als problematisch ansehen[407], oder aber darin ein Anerkennungs-Moment erkennen, und zwar die Struktur der wechselseitig