(1841–1920)
Geb. am 4.6.1841 in Frankfurt a.M. 1860–1863. Studium der Geschichte (bei Waitz, Lotze, Ernst Curtius) und der Rechtswissenschaften (u.a. bei H.A. Zachariä und Emil Herrmann) in Göttingen. 1863 Promotion. 1864 Habilitation in Heidelberg (bei → MittermaierMittermaier, Karl Josef Anton (1787–1867)) für Strafrecht und Strafprozeßrecht. Aufnahme der Lehrtätigkeit im Wintersemester 1864/65. Herbst 1866 Annahme des Rufs nach Basel auf einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht (Strafrecht, Rechtsphilosophie und Kirchenrecht). 1870 Übernahme einer Professur in Freiburg i.Br., 1872 Annahme eines Rufes nach Straßburg. Ab 1873 Professor in Leipzig, dort auch Tätigkeit im Spruchkollegium der Fakultät; 1879 bis 1900 außerdem Hilfsrichter am Landgericht Leipzig. 1892 und 1909 (bei der Fünfhundertjahrfeier der Universität) Rektor der Universität Leipzig. 1913 Emeritierung und Übersiedlung nach Freiburg i.Br. Dort am 7.4.1920 gestorben.
Als B.s bedeutendstes Werk auf dem Gebiet der Strafrechtsdogmatik gilt seine Normentheorie, die ihn fast fünfzig Jahre beschäftigt hat. Sie geht von der Feststellung aus, daß der Verbrecher, z.B. der Dieb, das Strafgesetz nicht übertritt, sondern erfüllt („Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen … wegnimmt“). Wenn man gleichwohl den Diebstahl als „Übertretung“ bezeichnet, so deswegen, weil dem Strafgesetz Ge- und Verbote, „Normen“, vorgelagert sind (z.B. „Du sollst nicht fremde bewegliche Sachen wegnehmen!“), gegen die der Verbrecher verstößt. Diese Normen lassen sich aus dem Strafgesetz erschließen, sie haben wie dieses die Qualität von Rechtssätzen. Aus den Normen wiederum lassen sich Werturteile entnehmen. Nach der Richtigkeit dieser Werturteile hat der Jurist nicht zu fragen. B. sieht das Verhältnis der Normen zum Strafgesetz als vergleichbar dem zivilrechtlichen von Recht auf Sachleistung zum Recht auf Schadensersatz: Das aus der Norm resultierende Recht des Staates „auf Botmäßigkeit“ verwandelt sich im Fall der Normverletzung in ein „Recht auf Zwang |64|wegen Ungehorsams“, in das (subjektive) staatliche Strafrecht. – Auf die Normen gründet B. nun sein Strafrechtssystem. „Delikt“ ist für ihn die schuldhaft normwidrige Handlung, „Verbrechen“ das Delikt, „soweit es strafbar ist“. Diese Unterscheidung ist charakteristisch für B.s Normenlehre, sie beruht auf seiner Ansicht, daß das Gesetz nicht jeden Normverstoß unter Strafe stelle. Die Norm (z.B. „Du sollst nicht fremde Sachen beschädigen“) verbiete nämlich nicht nur die vorsätzliche, sondern auch die fahrlässige Begehung des jeweiligen Delikts, das Strafgesetzbuch bestrafe aber nur in Ausnahmefällen auch die fahrlässige Begehung (z.B. ist fahrlässige Sachbeschädigung nach dem StGB nicht strafbar).
In der von B. vertretenen Form hat sich die Normentheorie im Strafrecht nicht durchsetzen können. Immerhin sind mindestens zwei wichtige Dogmen der gegenwärtigen Strafrechtslehre auf sie zurückzuführen. Das eine ist die Figur der „objektiven Strafbarkeitsbedingungen“, die ohne die Unterscheidung von Verbotsnorm und gesetzlicher Strafbarkeit nicht möglich wäre, das andere die von B. gegen die ältere Theorie „error iuris nocet“ energisch verfochtene Lehre von der Beachtlichkeit des Verbotsirrtums. Sie ergibt sich zwangsläufig aus der Normentheorie: gegen den Normbefehl kann nur der verstoßen, der konkret um ihn weiß. Im Ergebnis nähert sich B.s Lehre vom Verbotsirrtum sehr stark der jetzt in § 17 StGB verankerten sog. „Schuldtheorie“. – Darüber hinaus muß die Bedeutung der Normentheorie für die allgemeine Rechtslehre hervorgehoben werden: sie hat den Blick für „imperative“ Strukturen des Rechts geschärft, deren Ausschließlichkeit B. allerdings selbst – mit Recht – nicht anerkannte.
Durch sein Lehrbuch des Besonderen Teils des Strafrechts hat B. auch die Dogmatik der Einzeldelikte stark beeinflußt. Als für die Gegenwart vorbildlich hat sich seine Gliederung der Verbrechen nach der Art des verletzten „Rechtsguts“ erwiesen, die aus der Normentheorie, nach der die Normen dem Rechtsgüterschutz dienen, folgerichtig hervorging. B. wich damit von der, z.B. in A.F. Berners einflußreichem Lehrbuch zugrunde gelegten, Legalordnung des StGB ab, wie auch von der Systematik → FeuerbachsFeuerbach, Paul Johann Anselm (1775–1833), die im wesentlichen auf der Begehungsweise der Delikte aufgebaut war. Im einzelnen bringt das Lehrbuch, das als erste wissenschaftliche Bearbeitung der Einzeldelikte des StGB angesehen werden muß, eine Fülle von Erkenntnissen; auch heute noch ist es für die Beschäftigung mit vielen Problemen des Besonderen Teils unentbehrlich. Als besonders wichtig seien hervorgehoben: die „Substanztheorie“ des Diebstahls, die in der Gegenwart mit guten |65|Gründen wieder belebt wird, der lange Zeit einflußreiche „juristische“ Vermögensbegriff beim Betrug und die „normative“ Ehrauffassung bei den Beleidigungsdelikten.
Ein weniger geschlossenes Bild als seine Strafrechtsdogmatik bietet B.s Straftheorie. Im Vordergrund steht für ihn der schon von Kant mit besonderer Schärfe betonte Vergeltungscharakter der Strafe. Hierbei weist B. die wohl auf Hegel zurückgehenden „Heilungstheorien“ – auf Grund eines naturalistischen Mißverständnisses der Hegelschen „Aufhebung der Verletzung“ durch Strafe – zurück; er sieht in der Strafe nur die „Bewährung der Rechtsherrlichkeit durch Beugung des Verbrechers unter den Rechtszwang“. Als Nebenzweck erkennt er aber bei dazu geeigneten Strafarten die Spezialprävention an. Auch die → FeuerbachFeuerbach, Paul Johann Anselm (1775–1833)sche Lehre von der generalpräventiven Wirkung der gesetzlichen Strafdrohung lehnt er nicht gänzlich ab, wenn er auch eine Abschreckungswirkung nur in begrenztem Umfang für möglich und eine Rechtfertigung der Strafe selbst unter dem Gesichtspunkt der Generalprävention für ausgeschlossen hält. Der ganz auf die Spezialprävention abgestellten „soziologischen Schule“ → Franz v. LisztsLiszt, Franz v. (1851–1919) stand B. mit seiner „klassischen“ Haltung scharf ablehnend gegenüber; zu dem aus dieser Gegnerschaft resultierenden „Schulenstreit“ trug er in scharfen Polemiken bei: Er konnte in jener Lehre, die nach seiner Deutung alle Menschen zu Wahnsinnigen degradierte, nur „rechtlichen Nihilismus“ sehen und meinte, sie liefe auf die „einzige Maßnahme, die radikal helfen würde: die Abschaffung des Menschen überhaupt“ hinaus.
Die übliche Einordnung von B.s strafrechtlichem Werk unter das Schlagwort „Gesetzespositivismus“ trifft nur zum Teil das Richtige. Gesetzespositivist ist B. zwar in der Tat insofern, als er jede außerhalb des Gesetzes liegende Rechtfertigung des Strafrechts für überflüssig und wohl auch unmöglich hält („Hinter Verbot und Gebot beginnt aber für den, der nach der Rechtswidrigkeit sucht, tiefster undurchdringlicher Nebel“). Gleichwohl drängt bereits die Normentheorie mit ihrer Trennung von schuldhaft normwidrigem und strafbarem Verhalten über das positive Recht hinaus: In der von B. vertretenen Form, nach der die Verbote für fahrlässige und vorsätzliche Rechtsgüterverletzung identisch sind, kommt sie zu für die staatliche Rechtsordnung unbekannten Verboten, z.B. dem der fahrlässigen Ehrverletzung. Überhaupt betont B. wiederholt, daß auch der Gesetzgeber an die Eigengesetzlichkeit des Rechtsstoffs (z.B. an den Unterschied zwischen Tat- und Verbotsirrtum, zwischen Täterschaft und Teilnahme) gebunden sei, wenn |66|es ihm auch freistehe, wie er die strafrechtlichen Folgen z.B. dieser Irrtums- oder Teilnahmefälle regelt. Unpositivistisch ist ferner B.s Einstellung zu dem Problem der richterlichen Gesetzesanwendung, wie sich an seiner im Zusammenhang mit der Vorschrift des StGB über die Rechtsbeugung (§ 336) stehenden, fast freirechtlich klingenden Äußerung zeigt: „Für jeden Richter ist nur seine Auslegung des Gesetzes Gesetz.“ Schließlich paßt auch sein Kampf gegen den Grundsatz „nulla poena sine lege“ (→ FeuerbachFeuerbach, Paul Johann Anselm (1775–1833)) in diesen Zusammenhang.
Neben B.s strafrechtlichen Werken und seiner nach den Grundsätzen der Ranke-Waitzschen Schule geschriebenen „Geschichte des burgundisch-romanischen Königreichs“ steht eine Reihe von staatsrechtlichen Schriften. Von ihnen ist die Arbeit über „Die Gründung des Norddeutschen Bundes“ hervorzuheben. In ihr führt B. den Begriff der „Vereinbarung“, als der gemeinsamen Verpflichtung zu gleichartigem zukünftigem Verhalten, ein, den er im Gegensatz zum Begriff des Vertrages (Leistungsaustausch auf Grund gegensätzlicher Interessen) stellt. Der Begriff der „Vereinbarung“ ist durch Heinrich Triepel zum festen Bestandteil des völkerrechtlichen