Krähentanz. Philipp Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Philipp Schmidt
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Год издания: 0
isbn: 9783957770462
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Welt war er damals von ihrer Seite gewichen? Sie war schön, hart und mächtig gewesen, alles, was ein junger Krieger sich nur wünschen konnte. Aber halt! Im Nachhinein verzerrte man die Dinge leicht zu Idealen, die so niemals der Wirklichkeit entsprochen haben. Die Königin der Druden wollte ihn mit Heikhe, seinem Mündel, verheiraten. Ihrer beider Leidenschaft füreinander war nach dem Krieg ebenso schnell erloschen, wie der Stein, den er gerade über die Klippe warf, in das Tal raste. Aber plötzlich wusste er, was zu tun war. Weshalb hatte er nicht schon früher daran gedacht? Das Becken tief unter Erkenheim! Es hatte ihn schon einmal aus dem Reich der Toten zurückgeholt. Sicher würde es ihm auch jetzt wieder helfen. Das war es! Sein Weg würde ihn nach Erkenheim führen.

      * * *

      Den nächsten Tag begannen sie mit dem Abstieg. Er erwies sich zum Glück als leichter, als Kraeh es am vorigen Abend befürchtet hatte. Teilweise standen die alten Stützstreben noch. Wo es ging, balancierten sie vorsichtig über morsche Balken, die beunruhigende Geräusche von sich gaben, ihr Gewicht aber trugen. An den Stellen, die von Steinlawinen überschüttet worden waren und meist Stege und Geländer mit sich in die Tiefe gerissen hatten, ging Arduhl voran, prüfte die möglichen Gefahren und gab dann den anderen den Weg frei. Isabel ließ sich ebenso wie Kraeh auf besonders tückischem Untergrund von Lubbo helfen. Wenn er gerade mal nicht auf seine Schritte achten musste, fragte Kraeh sich, wie die Tannen, die vereinzelt aus dem Hang wuchsen, es schafften, hier zu überleben. Zwischen all dem Granit machte es den Anschein, als hätten sie sich gerade so viel Erde an einem kleinen Vorsprung oder einer Felsenmulde mitgenommen, dass ihre Wurzeln Halt fanden.

      Ein scharfer Wind blies ihnen in den Rücken und machte ihnen zusätzlich zu schaffen, schließlich jedoch erreichten sie zwar ausgelaugt, aber unversehrt eine schmale Holzbrücke am Fuß des Hanges, das letzte unversehrte Überbleibsel des alten Pfades. Allesamt atmeten sie auf, als sie hinter der Brücke anhielten und zurücksahen auf das, was sie geschafft hatten. Isabel sandte ein Dankesgebet gen Himmel.

      »Es gibt noch eine andre Route«, fiel Kraeh ein, dem die ängstlichen Blicke Lubbos unangenehm waren. Er wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass am Ende noch jemand abstürzte, wenn die Reisegesellschaft denselben Weg zurücknehmen sollte, nachdem sie ihn abgeliefert hatten. Dieser Weg barg ein zu großes Wagnis, viel zu groß, bloß um seine alte, stinkende Haut aus dem Wald zu schaffen.

      Isabel wandte sich ihm zu.

      »Es ist wahr. Sie führt dort«, er zeigte die Richtung mit dem Finger an, »an der Steilwand entlang. Wenn ihr dem Gebirgsverlauf drei Tage westlich folgt, gelangt ihr an einen Pass der wesentlich leichter zu besteigen ist.«

      Arduhls Augen verengten sich. »Drei Tage? Und wenn wir dort ankommen, kannst du beschwören, dass weder Firsen noch Räuber auf uns warten und Wegzoll verlangen?«

      Kraeh sagte nichts. Was hätte er auch dagegen halten sollen? Natürlich konnte er nichts dergleichen versprechen. Außerdem, war Arduhl nicht selbst ein Wilder? Aber das bedeutete natürlich nichts. Die Firsen waren untereinander zerstritten und kein Stamm erkannte die Grenzen des anderen an.

      »Noch mehr kluge Einfälle, alter Mann? Oder können wir weitergehen?«, fragte Arduhl wütend.

      »Er hat es nur gut gemeint«, wies Isabel ihn zurecht und sagte dann beschwichtigend zu Kraeh: »Wir werden über deinen Rat nachdenken, Henfir.«

      Der dunkelhäutige Krieger schüttelte den Kopf und ging eilig voran. Kraeh trat an seine Seite, bemüht, mit ihm Schritt zu halten. »Sie ist zu leichtgläubig«, zischte Arduhl. Er erlaubte sich nur deshalb, seiner Respektlosigkeit Luft zu machen, da er wohl davon ausging, den greisen Unruhestifter bald für immer los zu sein.

      »Du musst es ja wissen«, raunzte Kraeh zurück und verlangsamte seine Gangart, bis er wieder bei den anderen war.

      So gingen sie den ganzen restlichen Tag das überwucherte Tal hinab. Arduhl lief als Späher voraus und ließ die übrigen fünf an Weggabelungen zu sich aufschließen, wenn er sicher war, dass keine Gefahr drohte. Die beiden anderen Männer, der eine hochgewachsen und schlaksig, der andere feist und untersetzt, waren ebenso gottesfürchtig wie langweilig. Lieber noch unterhielt Kraeh sich mit dem einfältigen Lubbo als mit diesen demütigen, stets an den Lippen Isabels hängenden Windbeuteln. Die Heilige selbst war schweigsam und stellte zumeist ein entrücktes Grinsen zur Schau, das in einem fort zu sagen schien: ›Seht, wie wunderbar die gesamte Schöpfung doch ist!‹ Der alte Krieger wusste damit nichts anzufangen und so tauschte er Belanglosigkeiten mit Lubbo aus oder sann im Stillen.

      Die Nacht war bereits angebrochen, als sie brachliegende Äcker und kurz darauf die ersten Häuser erblickten.

      * * *

      Isabel hatte wieder die Führung übernommen. Vor ihnen lag eine größere Siedlung, die Kraeh nicht kannte. Zielbewusst steuerte die füllige Frau auf eine Aussparung in der mannshohen Palisade zu. Sie grüßte die beiden wachhabenden Soldaten, die aufgrund ihres gelben Wappenrocks über dem Brustpanzer auch bei der herrschenden Dunkelheit ins Auge stachen. Sie kannten die Heilige und ihre Gefährten, und nachdem sie den als Henfir vorgestellten Alten mit dem langen weißen Bart kurz gemustert und ihn offensichtlich als ungefährlich eingestuft hatten, gaben sie den Weg frei. Einen Steinwurf weiter, noch außerhalb des Stadtkerns, stand ein mehrstöckiges Gasthaus. Sie betraten es und fanden sich in einem bürgerlichen Schankraum wieder. Auch hier waren Isabel und die Ihren schon eingekehrt. Der Wirt löste sich von dem größten der runden Tische im Raum, an dem er mit seinen Gästen getrunken hatte, kam auf sie zu und bot ihnen Zimmer für die Nacht an. Er wirkte leicht enttäuscht, da Arduhl darauf bestand, sofort zu bezahlen.

      »Im Morgengrauen werden wir aufbrechen«, meinte Arduhl zerknirscht und leiser an Isabel gewandt: »Wir füllen unsere Vorräte auf und machen uns dann so schnell wie möglich auf den Weg.«

      Sie nickte, fischte die berechneten Silber- und Kupferstücke aus einem Beutel, den sie unter ihrem abgetragenen Gewand hervorgeholt hatte, und drückte sie dem schlaksigen Wirt in die offene Hand. Nach Abwicklung des Geschäftes setzte er sich wieder zu seinen Leuten.

      Isabel wünschte Kraeh Gottes Segen, ehe sie die Wendeltreppe betrat, die hoch zu den Schlafräumen führte. Die Übrigen folgten ihr. Als Letzter kam Lubbo. Auch er wünschte dem Alten alles Gute und meinte, vielleicht sehe man sich ja irgendwann wieder. Kraeh bedankte sich bei ihm und blieb schließlich allein zurück. Er war zwar erschöpft, wollte aber nicht gleich zu Bett gehen. Lieber hätte er sich an einen der freien Tische gesetzt und etwas getrunken. Wie aber sollte er das anstellen? Isabel hatte zwar, großzügig, wie sie war, seine Unterkunft bezahlt, offensichtlich aber nicht die Möglichkeit erwogen, dass einer ohne ein einziges Kupfer in der Tasche unterwegs sein könne. Na ja, dachte er und verkniff sich ein Grinsen, sie war nicht seine Mutter und hatte bereits mehr für ihn getan, als irgendjemand hätte erhoffen können. Er schalt sich einen närrischen, alten Tor, dass er versäumt hatte, die Leichen der Grabschänder zu plündern. Es war ihm in Anbetracht der Umstände schlicht nicht in den Sinn gekommen.

      Letztlich beschloss er leichthin, seinen leeren, genau genommen nicht einmal vorhandenen Geldsack zu ignorieren, setzte sich an einen verwaisten Tisch und bestellte, als der Wirt nach geraumer Zeit zu ihm kam, einen Krug Ale. Der schlaksige Mann mit dem kurzen Haarschnitt war anscheinend daran gewöhnt, dass seine Gäste anschreiben ließen. »Trink, iss und fühl dich wohl«, sagte er gutmütig. Kraeh vermutete den Grund seiner Großzügigkeit in dem üppigen Trinkgeld, das er sicherlich von Isabel erhalten hatte, und wahrscheinlich würde dieselbe enden, sobald sie abgereist war. Dennoch folgte er der Einladung. Nach dem Ale bestellte er einen weiteren Krug und eine Schale Eintopf, dessen aufgebrühter Geruch bald den Schankraum erfüllte.

      Er schob sich gerade den zweiten Löffel in den Mund, als Arduhl sich ihm gegenüber am Tisch niederließ. Kraeh hatte ihn nicht die Treppe herunterkommen sehen, schob diese Tatsache allerdings auf die Trübheit seiner alten Augen. Wortlos lenkte Arduhl die Aufmerksamkeit des Wirtes auf sich, zeigte auf den Eintopf und hatte wenig später auch eine Schale vor sich stehen.

      Schweigend schaufelten sie das mittelmäßige Sammelsurium an Kalbsfleisch, verkochtem Kohl, zerstoßenen Kartoffeln und allerlei anderen Zutaten, die in dem bräunlichen Durcheinander untergingen, in sich