TIONCALAI. Esther-Maria Herenz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Esther-Maria Herenz
Издательство: Автор
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783939043614
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Tag“, grüßte sie Deas und stellte sich auf Zehen­spitzen, um über den Schreibtisch blicken zu können, an dem er saß.

      „Guten Morgen, Neolyt“, antwortete er und nahm seine Lesebrille ab. „Deor ist dort hinten, er hat noch ein bisschen zu tun, müsste aber bald fertig sein. Geh nur ruhig schon mal zu ihm.“

      Neolyt machte sich auf den Weg, unterwegs fuhr sie mit dem Finger die vielen Buchrücken entlang. Irgendwie schienen die Schatten in der Bibliothek zu leben, sie blieben niemals an einer Stelle. Mit den Fingern folgte sie dem Weg eines Lichtflecks und legte den Kopf in den Nacken, um nach der Lichtquelle zu suchen. Zu ihrem Erstaunen schwebte ein leuchtender Puschelball von der Decke herab. Zögerlich streckte sie die Hand aus und kicherte, als die Fellkugel darauf landete. Auf einmal öffnete sich ein Schlitz darin und ein kleines Männchen streckte seinen mit langen Fühlern besetzten Kopf heraus.

      „Guten Morgen“, sagte es. „Marcelo Lumis ist mein Name, stets zu Diensten.“

      „Ich bin Neolyt. Was heißt zu Diensten?“

      „Ich leuchte“, sagte er nur.

      „Dann bist du ein Flammengeist?“, fragte sie neugierig.

      „Nein!“ Beleidigt zog er das Wort in die Länge. „Ich bin ein Glühwichtel, das sollte man doch sehen!“ Marcelo stieg endgültig aus seinem fliegenden Puschelball hinaus. Seine Haut war durchgehend von einem blassblauen Ton, nur die Spitzen seiner Fühler und sein Hinterteil, das an das einer Wespe erinnerte, leuchteten hellgelb. Er trug ein dunkelblaues Jackett mit vier Ärmeln für seine spindeldürren Ärmchen. Auch seine Beine, der Hals und der Kopf waren sehr dünn.

      „Entschuldigung. Ich hab noch nie einen Glühwichtel gesehen.“

      „Aha, Neuzugang. Freut mich sehr.“

      Neolyt erschrak, als der Puschelball plötzlich, der nun, da der Glühwichtel nicht mehr darin saß, auch nicht mehr leuchtete, zwei große, runde, schwarze Augen öffnete.

      „Keine Sorge, Batch ist nicht gefährlich. Ziemlich ungefährlich sogar, sehr gutmütig“, erklärte Marcelo. „Und stupide.“

      „Was heißt stupide?“, fragte Neolyt.

      „Dumm, begriffsstutzig, engstirnig, einfältig, borniert, hirnverbrannt, minderbemittelt, schwachköpfig, schwerfällig oder, umgangssprachlich, auch blöd oder doof“, sagte der Glühwichtel und warf damit weit mehr Fragen auf, als er beantwortete, aber Neolyt verzichtete darauf, sie zu stellen. „Wen oder was suchst du hier?“, fragte er.

      „Deor. Deas meinte, er müsse irgendwo dahinten sein.“

      „Ich bring dich hin“, bot Marcelo an und setzte sich in Batchs offenes Maul.

      Eine Weile gingen, beziehungsweise schwebten sie schweigend nebeneinander her.

      „Frisst Batch dich nicht, wenn du in ihn hineinsteigst“, fragte Neolyt schließlich, nachdem sie die beiden längere Zeit beobachtet hatte.

      „Nein“, antwortete Marcelo, als wäre diese Vorstellung absolut abwegig. „Wieso sollte er? Er ist nicht intelligent genug zum Schlucken und Verdauen. Batch existiert. So, wie jeder Baschou.“

      „Dann isst er gar nichts? Wie kann er überleben?“

      „Gar nicht. Batch lebt nicht, im weitesten Sinne des Wortes. Er existiert.“

      Neolyt beließ es dabei, auch wenn sie es nicht verstand.

      „Dort ist er“, sagte Marcelo schließlich und deutete auf einen Sessel, der mit dem Rücken zu ihnen stand. Er verneigte sich, dann stieg er in Batch hinein und klappte den Mund des Baschou zu.

      Neolyt ging um den großen Sessel herum. Deor saß nicht darin.

      „Deor?“, fragte Neolyt und trat näher.

      „Hallo“, sagte der Sessel.

      „Was?“, fragte Neolyt verblüfft.

      „Ich habe Hallo gesagt“, erklärte der Sessel und gähnte mit einem Mund aus Kordeln.

      „Hallo“, sagte Neolyt. „Ist es normal, dass du sprichst?“

      „Ja.“ Der Sessel sprach melodisch und weich, wie man es von einem Samtsessel erwartete. „Du willst zu Deor?“

      „Ähm, ja, genau. Ist er nicht hier?“

      „Doch. Ich sag ihm Bescheid.“

      Eine Weile beobachtete sie den Samtbezug, bis sich etwas darunter zu bewegen schien und mit einem Mal Deor aus dem Sessel auftauchte.

      „Guten Morgen, Neolyt“, sagte er und lächelte ihr zu.

      „Guten Morgen. Ist das bei allen Sesseln so?“

      „Nein“, erklärte er und stand auf. „Die meisten hier sind ganz normal. Aber ein paar können dich verschlucken, damit du beim Lesen deine Ruhe hast.“

      „Aber der Sessel meinte, es wäre normal, dass er reden könne.“

      Deor gluckste belustigt. „Natürlich sagt er das. Für ihn ist es nichts Ungewöhnliches. Siehst du, du würdest doch auch sagen, dass es normal ist, dich in einen Wolf zu verwandeln, nicht wahr?“

      „Ja. Aber das ist doch auch ein bisschen normal, oder? Es gibt sicher viele Leute, die sich in einen Wolf oder etwas anderes verwandeln können.“

      „Oh nein, Neolyt. Das können nur ganz wenige Menschen. Es heißt, manche Elfen hätten diese Fähigkeit und auch ein paar Kobolde in der Simeb-Wüste. Aber Leute wie dich gibt es nur ganz selten. Man könnte sogar behaupten, dass du die einzige Halbwölfin derzeit bist.“

      „Wirklich? Was ist die Simeb-Wüste?“

      „Das heben wir uns für den Geografieunterricht auf“, antwortete Deor und stieg über einen Teppich, der sich auf dem Gang zusammengerollt hatte und zu schnarchen schien.

      „Geografie?“, hakte Neolyt nach und sah neugierig zum Teppich zurück, während sie Deor zwischen den Bücher­regalen folgte.

      „Da bringe ich dir etwas über die Beschaffenheit Yalyris’ oder die Entstehung von Gebirgen und Winden bei.“

      „Was ist Yalyris?“

      „Das ist das Land, in dem die Einhorn- und Drachenreiter herrschen und unsere Hauptstadt Xialenóll liegt. Aber dort leben auch viele andere Wesen, zum Beispiel in der Simeb-Wüste.“

      „Aha.“

      Sie gingen weiter, bis sie an Deas’ Schreibtisch angelangt waren.

      „Du gehst schon?“, fragte der Bibliothekswächter und sah auf.

      „Ja, aber ich schick sie dir heut Nachmittag wieder vorbei.“

      „Gut. Schönen Tag noch“, meinte Deas und wandte sich wieder seinen Pergamenten zu.

      Deor und Neolyt setzten ihren Weg durch die Gänge der unterirdischen Schule fort, die von Flammengeistern in hellwarmes Licht getaucht wurden. Schließlich hielten sie vor einer kleinen Tür, die auf eine Handbewegung Deors hin aufsprang. Der Raum dahinter war klein, doch durch ein Fenster fiel Tageslicht hinein. Neolyt trat näher heran und versuchte, nach draußen zu sehen, doch dann fiel ihr wieder ein, dass es hier unter der Erde gar keine Fenster geben konnte.

      „Warum …“, begann sie und drehte sich um, doch der Schrank, den Deor soeben geöffnet hatte, verschlug ihr die Sprache. Bis zur Decke reichten die Etagen des hölzernen Riesen, die voller magischem Krempel zu sein schienen.

      „Anfängerspeicher“, sagte Deor und zu ihrer Verblüffung rutschten die Etagen nach unten und von oben tauchten neue auf. Ob das normal für einen Schrank war?

      Schließlich hielten die Bretter an und Deor nahm einen gefleckten, wachteleigroßen Stein heraus, warf ihn einmal kurz in die Luft und legte ihn dann auf einen kleinen, steinernen Tisch. Der Schrank verschwand in der Wand, die ebenfalls aus Stein war.