TIONCALAI. Esther-Maria Herenz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Esther-Maria Herenz
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783939043614
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sich schämen muss. Es gibt nicht nur schlechte Menschen.“

      „Das hat meine Mutter auch gesagt, und dass er froh sein solle, dass Flit noch lebe und uns nichts passiert sei.“

      „Deine Mutter ist eine vernünftige Wölfin. Steck das in die Tasche und geh. Pass aber auf, dass dich niemand sieht, Neolyt.“

      „Danke, Irla.“

      Die Tür öffnete sich, das Mädchen sah sich um und verwandelte sich dann in einen Wolf. Bemerkenswerte Kräfte, dachte Deor und folgte auf leisen Sohlen dem Wolf in den Wald hinein. Hoffentlich war ihr Rudel nicht allzu weit entfernt.

      Der Mond war schon lange aufgegangen, als Neolyt endlich die Lagerstätte ihres Rudels erreichte. Während des ganzen Weges hatte sie das Gefühl gehabt, jemand würde sie verfolgen, aber sie hatte niemanden gesehen oder gerochen. Auf leisen Pfoten schlich sie zu Flit hinüber und nahm wieder ihre menschliche Gestalt an. Mit geschickten Fingern nahm sie den alten Verband ab. Die Wunde war gut verheilt, trotzdem würde sie noch einmal die Salbe auftragen müssen. Dann legte sie ihm den frischen Stoff um.

      „Schlaf gut“, flüsterte sie ihm zu. Nur ein paar Wölfe lagen zwischen den Felsen, die meisten waren auf Jagd, aber Neolyt hatte von Irla Brot bekommen und außerdem war sie jetzt zu müde, um durch den Wald zu hetzen. Sie kuschelte sich dicht neben ihren Bruder, die Ohren wachsam aufgestellt.

      Als der Morgen graute, entschied Deor sich endlich, das Mädchen zu wecken. Leise trat er auf die Lichtung mit den Felsen und schlich zu ihr hinüber. Doch kaum, dass er mehr als ein paar Schritte getan hatte, erwachten die ersten Wölfe und hoben misstrauisch ihre Nasen in die Luft. Langsam kniete er sich hin und löste den Unsichtbarkeitszauber. Sofort sprangen die Wölfe auf und liefen knurrend auf ihn zu, doch er blieb ruhig sitzen, die Hände flach auf den Boden gedrückt und den Blick gesenkt. Er hätte sie alle mit einem einzigen Zauberspruch besiegen können, aber er war schließlich nicht die ganze Nacht durch den Wald geschlichen, um den Hass des Mädchens auf sich zu lenken.

      „Ich komme in Frieden“, versuchte er es, in der Hoffnung, die Wölfe würden ihn verstehen.

      Eine weiße Wölfin trat vor. Ihre Bewegungen waren geschmeidig und kraftvoll zugleich und ihr Blick verriet ihm, dass sie sich seines friedvollen Vorhabens bewusst war.

      Wer seid Ihr und was wollt Ihr?, fragte sie in Gedanken.

      Ich bin Deor, Nelars Sohn, und ein Drachenreiter. Im Dorf gehen Gerüchte um, eine eurer Wölfinnen sei nicht ganz das, was sie scheint.

      Was soll das heißen? Sie knurrte leise.

      Man sagt, sie sei ein Mensch und sie hätte magische Kräfte. Er hielt kurz inne, doch die weiße Wölfin ließ sich nichts anmerken. Wenn das wahr ist, muss sie mit mir kommen, um euch nicht in Gefahr zu bringen. Wir werden sie ausbilden.

      Zur Tioncalai?

      Ja, sie wird eine Einhornreiterin.

      Dann ist es also so weit, hörte er die Wölfin noch denken, bevor sie die Verbindung löste.

      Neolyt trat von hinten an die anderen Wölfe heran, die einen Mann umzingelt hatten, der offenbar der Gedankenrede mächtig war. Ihre Mutter wandte sich ihr zu.

      Neolyt, es ist an der Zeit, dass du in der Magie unterwiesen wirst. Du wirst mit diesem Mann zu den Einhorn- und Drachenreitern gehen, die dich ausbilden werden.

      In ihrem Kopf überschlugen sich die Fragen. Hatte sie tatsächlich Magie gebraucht? Konnte sie nicht hierbleiben? Was waren die Einhorn- und Drachenreiter? Warum sollte sie in Magie unterwiesen werden?

      Es ist zu gefährlich, wenn du hierbleibst. Du könntest die Magie unbewusst einsetzen und großen Schaden anrichten. Du brauchst einen Lehrer, glaub mir.

      Ja, Mlema. Aber – wann werde ich wiederkommen? Normalerweise nannte Neolyt ihre Mutter bei ihrem richtigen Namen, Anuim. Doch in ihrer Aufregung benutzte sie wieder das wölfische Wort für „Mama“, wie in der Zeit, als sie ein Welpe gewesen war.

      Bald, Alna, bald, erwiderte Anuim zärtlich. Sie sprach Neolyt oft so an, wohl, weil sie ihre einzige Tochter, ihre einzige Alna war. Vielleicht auch etwas später. Aber du wirst uns sicher besuchen können.

      Neolyt versuchte tapfer, sachlich zu bleiben, doch die Seite des achtjährigen Mädchens in ihr brach schließlich doch hervor.

      „Ich will nicht alleine weg! Bitte, Mlema. Ist es, weil ich Flit geholfen habe? Ich konnte ihn doch nicht sterben lassen! Ich werde nie wieder die Gesetze brechen, versprochen, nie wieder!“, rief sie, ohne zu merken, dass sie ihre menschliche Gestalt angenommen hatte. Tränen liefen ihr über die Wange.

      Aber Alna. Natürlich ist das keine Bestrafung. Du wirst sehen, es wird dir sehr gefallen. Ihre Mutter legte die Pfoten auf ihre Schultern und sah ihr in die waldgrünen Augen. Es ist wirklich wichtig, dass du eine Einhornreiterin wirst.

      Deor räusperte sich. „Ich werde jetzt meinen Drachen rufen. Erschreckt nicht, sie wird euch nichts tun.“

      Wenige Minuten später hörten sie ein Rauschen über ihren Köpfen und ein blaugrüner Drache landete etwas entfernt auf der Lichtung.

      „Komm, wir fliegen zum Stützpunkt.“ Deor streckte ihr seine Hand entgegen, doch Neolyt betrachtete sie nur misstrauisch, stand auf und sah sich nach ihrer Mutter um, die bereits zu der Drachin gegangen war. Ehrfürchtig folgte sie ihr und sah die Drachendame mit großen Augen an. Zögernd streckte sie die Hand aus und strich mit den Fingern über die glänzenden Schuppen an ihrem Hals.

      Die Drachin drehte den Kopf zu ihr und Neolyt wich erschrocken zurück.

      „Hab keine Angst. Wie heißt du?“ Ihre Stimme klang warm und freundlich.

      „Neolyt“, flüsterte sie und trat wieder ein Stückchen näher.

      „Das ist ein schöner Name. Ich bin Jufra. Und hab keine Angst vor Deor. Normalerweise ist er sehr freundlich, wenn er nicht gerade kleine Wölfinnen am frühen Morgen aus ihrem Rudel nimmt.“ Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und auch Neolyt lächelte vorsichtig.

      „Wir müssen jetzt wirklich los“, drängte Deor. „In ein paar Stunden muss ich wieder zurück sein.“

      „Mlema!“ Wieder hatte Neolyt Tränen in den Augen, während sie ihre Mutter umarmte.

      Mach dir keine Sorgen, Alna. Die Reiter sind alle sehr nett. Und versprich mir, dass du dich benimmst.

      Neolyt nickte und lief zu Deor hinüber, der sie vor sich in den Sattel hob.

      „Fliegen wird dir gefallen“, meinte Jufra und stieß sich vom Boden ab. Sie flogen über den Wipfeln der Bäume, Jufra legte sich zwischen den Hügeln in die Kurve und stieg mit einigen kräftigen Flügelschlägen noch höher, um sich dann im Sturzflug wieder in das Meer aus Bäumen zu stürzen. Ein unbeschreiblich schönes Gefühl breitete sich in Neolyts Bauch aus. Sie schrie auf vor Freude, die Tränen der Trauer hatte der Wind schnell getrocknet.

      Sie würde eine Einhornreiterin werden.

      Der Anfang des Endes.

      Neolyt sah sich mit weit aufgerissenen Augen um. So viele Menschen hatte sie noch nie gesehen. Die meisten beachteten sie gar nicht, doch manche bedachten sie mit flüchtigen, neugierigen Blicken.

      Jufra war mit ihnen vor etwa einer Viertelstunde einfach in einen Acker eingetaucht, als wäre er aus Wasser. Dann hatten sie sich zu Neolyts grenzenloser Überraschung in einer riesigen Halle befunden, in der viele andere Drachen in kleinen Höhlen in den Wänden saßen. Jufra war zu einer der Höhlen geflogen und darin gelandet. Deor hatte sie abgesattelt und war verschwunden, nachdem er sie aufgefordert hatte, hier zu warten, bis er wiederkäme. Nun saß Neolyt am Rand der Höhle und sah den Drachenreitern bei ihren Flugmanövern zu.

      Ein bisschen eingeschüchtert war sie schon von den vielen Menschen, aber es war auch alles so aufregend!

      Die Tür an der Rückwand der Höhle ging