»Heinrich? Du hast noch von einer zweiten Möglichkeit gesprochen …«
»Ja, genau, stimmt. Also, eventuell hat sie alles wieder erbrochen, noch bevor die Chemie allzu sehr wirken konnte. In diesem Fall wäre denkbar, dass sie aufgrund dieses neuerlichen Traumas quasi eine Persönlichkeitsveränderung durchgemacht hat, eine Art Schockreaktion. Manchmal ist so etwas nur zeitlich eingegrenzt, die Betroffenen werden wieder ganz die alten. Manchmal auch nicht, wenn sie denken, nichts mehr zu verlieren zu haben. Deine Lena ist von jeher eine Extremistin; bei solchen Charakteren steuert das Verhalten dann nach dem Trauma oft in genau die entgegengesetzte Richtung. Was ja geschehen ist. Nach dieser Phase pendelt es sich, falls wir Glück haben, irgendwann in der Mitte ein, zwischen diesen gegensätzlichen Polen ihres Verhaltens. Die zweite Möglichkeit wäre, dass sie noch mehr Tabletten mit sich geführt haben könnte. Wer garantiert uns, dass sie nicht doch mehr als diese eine Schachtel eingenommen hat? Sie könnte die Verpackungen weggeworfen haben. In diesem Fall wäre die Sache schlimmer, dieses Dreckszeug kann im Gehirn ganz schöne Schäden hinterlassen. Das wollen wir mal nicht hoffen!«
Meike klammerte sich an Dr. Heinrich Berner wie eine Ertrinkende, und dieser hielt sie allzu bereitwillig fest.
Dr. Berners Ausführungen hatten die Kindergärtnerin ganz schön erschreckt. Alles, bloß das nicht! Denn sie, Meike, rechnete sich nach wie vor die Schuld an Lenas Trauma an.
Weder der Arzt noch Meike hatte während dieser emotional aufgeladenen Unterredung bemerkt, dass sich ein Schlüssel im Türschloss der Eingangstüre drehte, diese nahezu geräuschlos aufgedrückt wurde. Anna Berner hatte an diesem Tag zufällig ihre Shoppingtour in der Nähe der Praxis ausklingen lassen und spontan beschlossen, ihren Mann direkt abzuholen, da er sonst wieder reichlich spät nach Hause kommen würde. Normalerweise war sie keine Frau, die leise Töne anschlug; so wollte sie zuerst mit der gewohnten Selbstsicherheit in die Praxis stolzieren. Allerdings hatte sie von draußen Stimmen wahrgenommen, wovon eine ihrem Heinrich gehörte, die andere einer Frau.
»Meike«, flüsterte er ihr schon fast zärtlich ins Ohr. »Es wird alles wieder gut, du wirst sehen. Wir kriegen das hin. Mir ist außerdem soeben eine dritte Möglichkeit eingefallen. Du hast mir doch mal ihre Mutter beschrieben, weißt du noch? Richtig sauer warst du, weil das so eine kalte, aufgedonnerte Schnepfe war, die mit dem Kind gar nichts anfangen konnte. Es wäre somit auch möglich, dass sie nun einfach wie ihre Mutter wird. Blut ist dicker als Wasser, sagt man!«
Mit tränennassen Augen sah Meike zu Dr. Berner auf, der sie um mehr als einen Kopf überragte. »Das würde mir aber auch nicht gefallen, Heinrich. Ich kenne und liebe sie so, wie sie war. Ich weiß ja, dass ich derzeit nichts machen kann, weil sie erwachsen ist. Handy besitzt sie keines, also kann ich sie nicht einmal anrufen. Keine Ahnung habe ich, wohin genau sie geflogen ist. Also kann ich nur abwarten. Darf ich mit ihr zu dir kommen, falls sie zurückkommt? Damit du sie dir einmal ansehen kannst?« Wieder brach Meike in Tränen aus.
»Selbstverständlich, Meike, was glaubst denn du!« Widerwillig löste sich Dr. Berner von Meike, sah ihr eindringlich in die Augen.
»Halte mich bitte auf dem Laufenden, ja? Ruf mich an, wenn du etwas von ihr gehört hast, dann überlegen wir gemeinsam, was zu tun ist.«
Die überaus blonde Frau draußen im Flur hatte bruchstückhaft genug gehört, vor allem aber eine nette Szene durch den Türspalt beobachtet. Sie würde jetzt bestimmt nicht nach Hause gehen, sondern schnurstracks zum Anwalt. Wütend rauschte Anna Berner das Treppenhaus hinunter. Flüsterte der doch dieser dicken Tussi etwas von einer »aufgedonnerten Schnepfe« ins Ohr! Na warte, der konnte etwas erleben!
Anna Berner wusste auch schon spontan, wie die kalt servierte Rache am süßesten schmecken würde. Dieser Don Juan konnte mit Unterhaltszahlungen bluten bis an sein Lebensende! Mit drei Kindern und Ehegattenunterhalt am Hals wäre sein Leben, wie er es gekannt hatte, wohl beendet. Pah, von wegen »hektischer Tag in der Praxis«! Nun endlich wusste Anna Berner, warum ihr Mann fast täglich so spät aus der Praxis gekommen war. Ausgerechnet diese plumpe Kindergärtnerin!
Und Meike Keller hätte beim Verlassen des Gebäudes schwören können, dass die Frau, die dort drüben auf der anderen Straßenseite schwungvoll in ihr Cabrio stieg, Anna Berner hieß. Sie war immer noch so schön, stellte Meike neidvoll fest.
* * *
»Nun erzähl mal, Lena. Was war denn gestern Abend mit dir los?« Yoli hatte Kaffee gekocht, Lena einen großen Pott des Muntermachers gereicht. Die saß am winzigen Küchentisch dieser winzigen Küche des winzigen Appartements, das Kellnerin Yoli in Rojales, einem winzigen Städtchen im Hinterland der Costa Blanca, alleine bewohnte. Lenas künstliche Selbstsicherheit war noch immer wie weggeblasen, still knubbelte sie an ihren Fingernägeln herum.
»Es geht schon wieder. In letzter Zeit war eben alles etwas viel für mich. Weißt du, ich hatte nicht gerade das lustigste Leben. Zuerst ließ mich meine Mutter einfach sitzen, da war ich knapp fünf Jahre alt. Die Kindergärtnerin hat mich adoptiert, mir aber niemals erzählt, wo Mama abgeblieben ist. Mein Stiefvater hat mich zwar akzeptiert, mehr aber auch nicht. Immer bekam ich überall Schwierigkeiten, niemand konnte mich so lieben, wie ich nun einmal war. Ich lese gerne, habe mich niemals viel mit anderen Menschen abgegeben, weil ich Angst vor Enttäuschung hatte. Tja. Und letzten Monat habe ich mit meinen Stiefeltern so sehr gestritten, dass ich dort nicht mehr bleiben mochte.«
Yoli hatte aufmerksam zugehört, eine zweifelnde Miene aufgesetzt. Was erzählte diese Touristin da? Lena und zurückgezogenes Leben?
»Und dann? Bist du erst einmal in Urlaub gefahren, damit die sich beruhigen?«
»Nein, nicht gleich. Eigentlich wollte ich Selbstmord begehen, das hat aber nicht funktioniert. Die Tabletten kotzte ich alle wieder aus. Da habe ich einen Neuanfang gemacht, eine vollkommen neue Lena wollte ich sein. Eine, die das Leben genießt, die so ist wie alle anderen auch. Außerdem wollte ich endlich einmal einen Freund haben, ich hatte mich aus lauter Angst immer von allen männlichen Wesen ferngehalten. War auch notwendig, ich hatte bisher nur totale Idioten kennen gelernt. Und bei der Party tauchte dann dieser Stephen auf. Er faszinierte mich, weil er intelligent und ehrlich wirkte. Diese grünen Augen … Was dann geschah, weißt du ja. Ihr dürftet es alle mitbekommen haben. Leider.« Lena lief vor lauter Scham rot an.
Yoli konnte es nicht fassen. »Du willst mir doch jetzt nicht allen Ernstes verklickern, das sei der erste Mann gewesen, mit dem du intim geworden bist? So, wie du den angemacht hast? Mein lieber Schwan, der hatte überhaupt keine Chance!«
Lena sah peinlich berührt aus. »Doch, so ist es. Was mag er von mir denken? Ich bin sonst nicht so, ganz und gar nicht. Vielleicht hatte dieser Joint auch auf mich eine komische Wirkung, Steve war doch am nächsten Tag ebenfalls ziemlich von der Rolle. Wer weiß, was da drin war. Außerdem habe ich mir wohl etwas vorgemacht. Stephen hat mich nur benutzt, war am nächsten Tag überhaupt nicht mehr an mir interessiert. Ich hatte doch so gehofft …«
»Na, du bist vielleicht gut! Glaubst du, mit jemandem mal eben in die Kiste steigen zu können und das war es dann? Nachher rettet dich dieser Ritter aus dem Turm und ihr lebt glücklich und zufrieden bis an euer Lebensende? Nö, da braucht es schon ein bisschen mehr! Gleich am ersten Abend so etwas, da reduzieren dich die Männer ganz schnell auf deinen Körper. Weißt du das denn nicht?«
»Nein, das wusste ich nicht«, bemerkte Lena kleinlaut. »Ich hatte mich mit Jungs doch noch gar nicht befasst, bin ihnen ausgewichen. Bevor ich abgeflogen bin, habe ich mir vorsichtshalber beim Frauenarzt die Pille verschreiben lassen, ganz blöd bin ich ja auch nicht. Die Sache mit den Bienen und Blumen war mir bekannt, falls du das als Nächstes fragen wolltest.« Lena sah ein bisschen beleidigt drein.
»Nein, entschuldige, Lena. Doch ich habe einfach noch niemals jemanden in deinem Alter kennen gelernt, der sich wie du verhielt und trotzdem noch … sag mal, warst du etwa vor dem Abend mit Stephen noch