Eines Abends in einem Restaurant in der Hafenstadt Calvi änderte sich sein Verhalten plötzlich. Wir hatten eine Pizza bestellt, und als der Kellner sie brachte, schaute Gavin sie kritisch an. »Es ist zu wenig Schinken darauf im Verhältnis zum Käse«, sagte er gereizt. »Außerdem ist die Pizza zu klein und der Rand leicht angebrannt.« Ich war verwundert. In meinen Augen unterschied sich diese Pizza nicht von den anderen, die wir bisher gegessen hatten. Und ehrlich gesagt genoss ich einfach den Mondschein auf der Restaurantterrasse, und das Schinken-Käse-Verhältnis fiel mir in keiner Weise negativ auf. Gavin fing an zu essen, aber mit jedem Bissen verschlechterte sich seine Laune. Schließlich nahm er die ganze Pizza, stürzte sie kopfüber auf den Tisch und beschwerte sich lauthals auf Englisch über die miserable Qualität und den Preis. Ich traute meinen Augen nicht, hatte ich doch Gavin bisher nur ruhig und nett erlebt; dass er sich so grauenhaft über eine Kleinigkeit aufregen konnte, hätte ich nie gedacht. Zum Glück sprach ich recht gut Französisch und konnte mich beim Kellner für sein Benehmen entschuldigen. Das Ganze war mir unverständlich und äußerst peinlich, zerstörte es doch die romantische Atmosphäre des kleinen Hafenrestaurants. Gavin fühlte sich jedoch in keiner Weise schuldig. Was verlangten die auch so viel Geld für dieses erbärmliche Stück Teig mit der unausgewogenen Schinken-Käse-Mischung!
Auf dem Heimweg ereiferte er sich noch einmal im Detail über die Unverschämtheit des Restaurants. Was glaubten die ihren Gästen vorsetzen zu können! Während ich lieber den schönen Abend genossen hätte – eine Pizza blieb doch immerhin eine Pizza –, war für Gavin offensichtlich die Qualität einer Speise, deren Geschmack und Textur vorrangig. Das merkte ich auch später immer wieder. Zurück beim Zelt, hatte er sich aber wieder beruhigt.
Zwei Tage bevor unsere Ferien in Korsika zu Ende waren, saßen wir in einem kleinen Restaurant am Strand und wurden uns plötzlich bewusst, dass Gavin bald die Rückreise nach Australien antreten musste. Der Gedanke an einen erneuten Abschied fiel uns schwer; wussten wir doch, dass es dieses Mal länger dauern würde, bis wir uns wiedersahen. Wir hatten die drei Monate zusammen sehr genossen und konnten uns nicht vorstellen, wieder auf verschiedenen Kontinenten zu leben.
»Willst du mich heiraten?«, fragte Gavin plötzlich, und ich verschluckte mich vor Überraschung fast an meiner Cola. Da war kein unnötiges Drumherum, kein Ring und kein Sich-auf-die-Knie-Werfen, einfach bloß eine schlichte Frage an einem schönen Strand. Ich schaute ihn an, wie er so vor mir saß mit seinen grünen Augen, den blonden Haaren und der braun gebrannten Haut; dann sagte ich einfach Ja. Wir waren beide jung und verliebt und hatten keine Ahnung, was eine Ehe an Pflichten und gegenseitigen Erwartungen mit sich bringen würde. Wir wussten nur, dass wir uns nicht wieder trennen wollten.
Ich überlegte damals nicht, dass mein Entschluss einen Landeswechsel bedingen würde und dass ich somit Abschied nehmen musste von meiner Familie, meinen Freunden, meinem Beruf und meiner Heimat. Später, als alles so schwierig wurde und ich im fernen Australien so schrecklich Heimweh bekam, fragte ich mich immer wieder, warum ich damals so unbesorgt alles aufgegeben hatte für einen Mann, den ich kaum kannte. Über alle Bedenken und Warnungen hatte ich nur gelacht, zu groß war der Reiz, in einem fernen Land zu leben, dessen Natur mich faszinierte. Angst hatte ich keine und als Optimistin auch nicht den geringsten Zweifel, dass Gavin sich gut um mich kümmern würde.
Wir haben alle Stärken und Schwächen. Meine Schwäche liegt darin, dass ich im Leben oft kopflos meinem Herzen folge. Ich bin wie ein Schmetterling, fliege von Blume zu Blume, genieße den Duft, die frische Luft und die Freiheit, ohne mir große Gedanken zu machen, wohin mich mein Weg führt. Lande ich mal in einer dunklen Ecke des Gartens, ändere ich einfach meine Richtung und fliege wieder ans Licht. Werde ich nass, schließe ich meine Flügel für eine Weile und warte, bis die Sonne wieder scheint. Gavin hingegen überlegt sich seine Entschlüsse sehr genau. Er ist wie ein Zug, der exakt von einer Station zur nächsten fährt. Jede Weichenstellung ist gut durchdacht und geplant.
Als ich mich vor 27 Jahren entschloss, Gavin zu heiraten und mit ihm nach Australien auszuwandern, hatte ich keine Ahnung, dass mich mein Schmetterlingsverhalten gerade in einen ganz düsteren Teil des Gartens führte, aus dem ich jahrelang nicht zurück an die Sonne finden würde. Damals am Strand in Korsika legte ich einfach glücklich meine Hand in die von Gavin und freute mich auf unser gemeinsames Leben.
6
Wieder zu Hause, erzählte ich allen von unseren Hochzeitsplänen. Meine Freunde freuten sich zwar für uns, schienen jedoch überrascht von unserem Entschluss, so schnell heiraten zu wollen; schließlich kannten wir uns erst seit fünf Monaten. Verliebt und begeistert von der Idee, nach Australien auszuwandern, ignorierte ich ihre besorgten Blicke und fing an, die bevorstehende Hochzeit zu planen. Erst Jahre später wurde mir bewusst, dass mein damaliger Entschluss für meine Mutter sehr schmerzhaft gewesen sein musste, hatte sie doch erst zweieinhalb Jahre zuvor ihren Mann verloren. Als Gavin und ich ihr mitteilten, dass wir heiraten und anschließend in Australien leben wollten, zeigte sie aber weder Trauer noch Schmerz, sondern nur Freude. Gavin machte mich offensichtlich glücklich, und das bedeutete ihr viel.
Ein großes Hochzeitsfest wollten wir alle nicht. Ohne meinen Vater konnten wir uns so etwas gar nicht vorstellen. Nur ein paar Monate vor seinem Tod hatte er gesagt: »Wenn du einmal heiratest, Katrin, dann machen wir ein Riesenfest.« Wir beide liebten solche Anlässe und freuten uns damals bereits gemeinsam auf eine schöne Feier mit vielen Gästen, toller Musik, witzigen Reden und fröhlichem Gelächter. Nach seinem Tod hatte ich keine Lust mehr darauf – ohne ihn wäre es wie eine Torte ohne Zucker gewesen. Später habe ich mich oft gefragt, ob er mich wohl so einfach nach Australien hätte ziehen lassen. Ich werde es nie erfahren; aber wäre ich damals nicht ausgewandert, wüsste ich nicht, was ich heute weiß, und hätte wohl auch nie als psychologische Beraterin so vielen Leuten geholfen.
Gavin und ich entschlossen uns für eine schlichte Trauung mit anschließendem Aperitif. Seiner Familie war es leider nicht möglich, an der Feier teilzunehmen, da die Reise von Australien zu weit war und die Mutter gerade gesundheitliche Probleme hatte. Ihm schien ihre Abwesenheit nichts auszumachen. Am 23. Oktober 1987 heirateten wir auf dem Standesamt in Jegenstorf, und eine Woche später fand in Thun die kirchliche Trauung statt.
Die Scherzligkirche war zum Platzen voll mit Leuten, die den schönen Tag mit uns verbringen wollten. Glücklich, meine Schüler, meine Freunde und meine Verwandten unter den Gästen zu sehen, wusste ich nicht, ob ich vor Aufregung zitterte oder wegen des sommerlichen Hochzeitskleids, das ich von einer Freundin ausgeliehen hatte – mir war damals nicht bewusst gewesen, wie kalt es im Oktober in der Schweiz schon sein konnte; ich hatte mich einfach darüber gefreut, dass mir das hübsche Kleid so gut passte.
Endlich war es so weit: Die Orgel fing an zu spielen, und Gavin und ich machten uns auf den Weg zum Altar, wo der Pfarrer auf uns wartete. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, was in diesem Moment in mir vorging, aber ein lieber Freund schickte mir später eine Karte, in der meine Gefühle bestens beschrieben waren: »In deinen Augen spiegelte sich eine solch tiefe Freude, wie ich sie noch nie bei jemandem gesehen habe. Du hast ganz eindeutig die Liebe deines Leben gefunden, Katrin.« Er hatte recht, ich war sehr glücklich an diesem herbstlichen Tag in der kleinen Kirche am Thunersee. Am Arm von Gavin und im Kreis meiner Lieben fühlte ich mich warm und geborgen. Erst sangen meine Schüler englische Lieder, dann hielt der Pfarrer eine wunderschöne Predigt. Schließlich war es Zeit für das Jawort.
Zuerst fragte der Pfarrer mich, und ich sagte ohne zu zögern Ja. Als er Gavin auf Englisch die gleiche Frage stellte, gab er keine Antwort. Eine peinliche Stille breitete sich in der Kirche aus, und die Gäste hielten gespannt