Aus irgendeinem Grund scheint er dauernd unter Strom zu stehen, sogar beim Fernsehen. Ganz besonders zeigt sich das, wenn er ein Spiel seines Lieblingsfootballteams anschaut. Er folgt dem Geschehen mit einer solchen Intensität, dass jeder Muskel angespannt ist. Manchmal habe ich Angst, dass er dabei einen Herzinfarkt erleidet, vor allem, wenn dem Gegner ein Goal gelingt. Über Kleinigkeiten kann er sich extrem aufregen und wird dann sehr verletzend. Kurze Zeit später aber hat er den Vorfall bereits wieder vergessen.
Gavin ist wie ein Kristall, der je nach Lichteinfall in den verschiedensten Farben funkelt. Oder wie eine Wundertüte, bei der man nie weiß, ob darin eine Süßigkeit liegt oder einem ein Frosch an die Nase springt. Ich spüre, dass er ein guter Mensch ist und dass vor allem Stress sein Verhalten bestimmt. Woher dieser kommt, weiß ich leider nicht.«
Am nächsten Morgen sagte Gavin aus heiterem Himmel: »Vielleicht bin ich Autist.« Lachend winkte ich ab und erklärte, dazu rede er zu viel. Ich war mir sicher, dass er keine autistischen Züge trug, trotzdem wollte ich in den nächsten Tagen die Symptome dieser Entwicklungsstörung unter die Lupe nehmen. Will man ein Rätsel lösen, muss man schließlich jeder Spur folgen, egal, wie schwach sie ist. Was immer es sein mochte, ich konnte nicht mehr lange so weiterleben. Meine Unruhe wurde täglich größer. Ich musste unbedingt herausfinden, was mit Gavin los war, bevor ich meine Lebensfreude völlig verlor.
Doch beginnen wir von vorn. Als junges Mädchen hatte ich davon geträumt, einen Mann zu heiraten, der mein Romeo, mein Beschützer und mein bester Freund ist. Meine Eltern hatten mir vorgelebt, dass eine Ehe beglückend ist und man heiratet, um das Leben gemeinsam zu meistern und zu genießen. Doch als ich meinem Traummann nach Australien folgte, musste ich lernen, dass das nicht selbstverständlich ist.
2
Ich wurde am 11. Mai 1960 im Spital Thun geboren. Meine Eltern hatten zu der Zeit bereits einen dreijährigen Sohn und freuten sich, nun auch ein Töchterchen zu haben. Wir wohnten im Schönau-Quartier in einer kleinen Wohnung im obersten Stock eines Mehrfamilienhauses, und mein Vater war Lehrer an der Mädchensekundarschule Thun, wo er so beliebt war, dass einige Schülerinnen angeblich weinten, als er eines Tages einen Verlobungsring trug. Meine Mutter arbeitete bis zu ihrer Hochzeit als Chefsekretärin, dann wurde sie Hausfrau und schaute zu uns Kindern.
Wir waren nicht reich, aber ich hatte immer alles, was ich mir wünschte. Meine Großmutter, die auf einem Bauernhof aufgewachsen war, nähte mir wunderschöne Kleider, in denen ich mir wie eine Prinzessin vorkam. Leider durfte ich sie nur an besonderen Tagen tragen, weil bei meinen Eskapaden immer wieder Löcher in den Strümpfen entstanden. Ich war ein abenteuerlustiges Kind, und da wir in einem Block wohnten, hatte ich immer viele Spielgefährten. Im Sommer bauten wir im Sandkasten Burgen, verkleideten uns als Indianer, spielten Sitzball und Badminton oder fuhren Trottinett.
Manchmal flog ich auf einer der Schaukeln, die es zwischen den Wohnblöcken gab, so hoch ich konnte. Dabei wünschte ich mir, dass es mir eines Tages gelingen würde, über die Berge hinweg nach Italien zu springen. Mir gefiel dieses Land mit den feinen Gelati, den tollen Lasagnen und dem riesigen Meer. Unsere jährlichen Familienferien dorthin waren für mich immer ein Höhepunkt des Sommers.
Aber auch in Thun war es zu dieser Jahreszeit schön. Sobald es warm wurde, durfte ich mit meiner Familie ins nahe gelegene Strandbad, das mit seinen vielen Becken, dem Sprungturm und dem schönen See Besucher aus der ganzen Welt anlockte. Meist nahmen wir ein Picknick mit, aber an besonderen Tagen aßen wir im Restaurant Wienerli und Kartoffelsalat.
Selbst im Winter langweilte ich mich nie. Mein Kinderzimmer mit Sicht auf die Alpen war ein Paradies, in dem ich stundenlang spielte. Egal, ob ich meine Puppen verarztete, im Krämerladen imaginären Kunden Waren verkaufte, zeichnete, malte, Puzzles legte, mich verkleidete, als Postbeamtin Einzahlungsscheine ausfüllte oder ganz einfach Büchlein anschaute, glücklich war ich immer. Brauchte mein Bruder eine Spielgefährtin, war ich gern bereit, auch mit Autos zu spielen oder seine Indianer mit Cowboys anzugreifen. Kamen Freunde zu Besuch, passte ich mich ihren Wünschen an, und wenn ich genug vom Spielen hatte, ging ich ins Wohnzimmer und tanzte zu meinen Lieblingsplatten. »Schön ist es, auf der Welt zu sein, sagt die Biene zu dem Stachelschwein«, sang ich inbrünstig, bis meine Mutter hereinkam und die Lautstärke zurückdrehte – worauf ich mich verlegen nach einer neuen Beschäftigung umsah.
Sobald genug Schnee lag, packte ich meinen Schlitten, wanderte auf den kleinen Hügel hinter unserem Block und sauste übermütig mit den Nachbarskindern hinunter. Hatten wir genug vom Schlitteln, bauten wir Schneemänner oder hohe Burgen. In einem besonders kalten Winter gelang es uns sogar, eine Schlittschuhbahn anzulegen, auf der wir Pirouetten drehten. Ich wirkte dabei vermutlich nicht sonderlich elegant, aber das war mir egal. Hauptsache, wir hatten es lustig.
Kurz vor Weihnachten war es bei uns besonders gemütlich, da ich mit meiner Mutter Geschenke für die Verwandten basteln durfte. Ich war zwar kein Basteltalent, leimte, malte und klebte aber voller Freude, bis der Küchentisch farbig war und die Teller trotz heftigem Schrubben beim Abendbrot fast kleben blieben. In der Sonntagsschule führten wir jedes Jahr ein Krippenspiel auf, bei dem ich einmal sogar die Maria spielen durfte. Stolz spazierte ich an Josefs Arm durch die Kirche und genoss es, meine langen Haare einmal offen tragen zu dürfen. Im Alltag hatte ich Zöpfe, weil ich sonst immer zerzaust gewesen wäre. Am Heiligabend sangen und musizierten wir, dann las uns mein Vater die Weihnachtsgeschichte vor. Begeistert bewunderte ich dabei die schöne Dekoration und atmete den Duft von Kerzenwachs ein. Die folgende Bescherung erfüllte immer alle meine Wünsche, und oft konnte ich danach vor lauter Freude kein Auge zutun.
Meine Kindheit empfinde ich als ein Bilderbuch voll schöner Erinnerungen, bis ich mit sechs Jahren in den Kindergarten musste. Aus unerfindlichen Gründen konnte mich die Kindergärtnerin nicht ausstehen. Immer wieder zerriss sie vor den Augen der anderen Kinder meine Zeichnungen und sagte: »Du kannst nicht zeichnen.« Das stimmte aber nicht, im Gegenteil! In meinem Zimmer, vor dessen Fenster ein wunderschöner Kirschbaum stand, hatte ich bisher immer freudig mit Ölkreiden, Buntstiften und Wasserfarben gemalt. Meine Figuren waren groß, dick und sehr farbig, und auf jeder Zeichnung lachte eine strahlende Sonne.
Obwohl ich sichtlich darunter litt, hörte die Kindergärtnerin nicht auf, mich täglich vor allen herunterzumachen, doch ich war noch zu klein, um meinen Eltern von ihren verletzenden Worten zu erzählen. Ich sagte ihnen bloß, dass ich nicht mehr in den Kindergarten gehen wolle. Sie dachten wohl, ich hätte einfach keine Lust, etwas zu lernen, und da mich der Kindergarten ja auf die Schule vorbereiten sollte, schickten sie mich trotzdem hin. Ängstlich würgte ich morgens mein Frühstück hinunter, hatte große Mühe, abends einzuschlafen, und verlor bald einmal jegliche Freude, auch am Zeichnen.
Meine Mutter ging meist früh zu Bett. Konnte ich nicht einschlafen, schlich ich mich manchmal vor ihre Schlafzimmertür und klopfte schüchtern an, bekam jedoch keine Antwort. Traurig ging ich dann zurück in mein Zimmer und fühlte mich zum ersten Mal im Leben so richtig verlassen. Meine Eltern waren sich dessen nicht bewusst; ich hätte wohl nur lauter klopfen müssen, wollte sie aber nicht wecken. Außerdem hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich immer noch wach lag, obwohl so kleine Mädchen doch längst hätten schlafen müssen. Aber die Angst vor der Kindergärtnerin saß mir tief in den Knochen, und oft hörte ich die Kirchturmuhr drei schlagen, bis mich der Schlaf endlich erlöste. Das war mit ein Grund, dass ich später Lehrerin wurde. Ich schwor mir, dass meine Schüler sich nie vor mir fürchten müssten.
Zum Glück durfte ich oft zu meiner Großmutter. In ihrem gemütlichen Haus war die Welt immer in Ordnung. Von ihr erfuhr ich Liebe und Geborgenheit, wie ich sie später nie mehr fand. Ich ging sie häufig besuchen und durfte mindestens zweimal im Jahr zu ihr in die Ferien. Sie spielte mit mir, kochte mein Lieblingsessen, erzählte mir Geschichten, half mir, Drachen zu basteln, und sammelte Kastanien mit mir, aus denen wir kleine Männchen und Tiere machten. Da sie wie ich gern draußen war, gingen wir oft picknicken oder spielten stundenlang im Freien, wobei ich die Prinzessin war und sie meine Dienerin. Ich hatte dann immer das Gefühl, wunderschön