Intertextualität und Parodie in Ovids Remedia amoris. Maria Anna Oberlinner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Maria Anna Oberlinner
Издательство: Bookwire
Серия: Classica Monacensia
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823303558
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der Remedia zu Tage (vgl. V. 135–488). Im Folgenden belege ich die These, dass sich die Weisungen des lukrezischen praeceptor wie eine intertextuelle Klammer um die ersten Vorschriften Ovids legen, bevor dieser in der Aufforderung zur Selbsttäuschung die epikureische Basis von De rerum natura invertiert und praecepta vorstellt, die kontrapunktierend über Lukrez hinausgehen.2 Dass es legitim ist, Lukrez als einem der ‚Archegeten‘ der Gattung Lehrgedicht eine Wirkung auf Ovids Text zuzuschreiben und De rerum natura als Anknüpfungspunkt für die Remedia zu untersuchen, sehe ich in zweierlei Hinsicht begründet. Zum einen ist der Einfluss des Hexameteropus auf die Literatur der augusteischen Zeit im Allgemeinen vielfach spürbar.3 Zum anderen erwähnt Ovid, als einziger Dichter seiner Zeit, Lukrez namentlich,4 und zwar als sublimis Lucretius in am. 1, 15, 23 und trist. 2, 423–428. Dabei ist besonders das vierte Buch des didaktischen Prätextes für die intertextuelle Referenz relevant.

      4.1.1 Die Grundkonzeption von De rerum natura liber 4 und die Bedeutung der ‚Bilder‘

      Im Buchpaar1 der libri 3 und 4 werden die atomistischen Grundprinzipien, die Lukrez in den ersten beiden Büchern entfaltet, auf das menschliche Leben angewandt: Buch 3 behandelt die Beschaffenheit der Seele und Buch 4 die Sinneswahrnehmungen. Das Ziel besteht darin, psychophysische Phänomene wie Wahrnehmung, Verlangen und Schlaf zu erklären,2 wobei die Themen „effluence“, also Wahrnehmung durch den Ausfluss von Partikeln eines Objektes, und ‚Illusion‘ dominieren.3 Das Fundament hierfür bildet, wie etwa Robert Brown (1987) ausführt, die epikureisch-atomistische Erkenntnistheorie, die besagt, dass εἴδωλα/simulacra als materielle Basis für sinnliche Wahrnehmung fungieren und sie generieren (vgl. auch Lucr. 4, 26–822).4 Diese wiederum stelle das Kriterium für wahre Erkenntnis dar (vgl. Lucr. 1, 422–425 und 693–700 sowie Lucr. 4, 469–521),5 während Irrglaube, Illusion und falsche Vorstellungen für Lukrez darin begründet lägen, dass der Verstand die sensuellen Daten falsch evaluiert und interpretiert (vgl. etwa Lucr. 4, 379–468).6 Dementsprechend werde im Fall der, von Epikureern als negativ beurteilten, Liebesleidenschaft die Attraktivität des geliebten Menschen nicht mehr nur für sexuelle Stimulation und körperliche Befriedigung genutzt.7 Vielmehr seien die Bildchen, die der geliebte Mensch aussende, als dianoetische simulacra im Verstand des Betroffenen präsent. Deshalb beginne dieser, bei Abwesenheit des/der Geliebten8 von seinem/ihrem Bild besessen zu sein (vgl. V. 1037–1072) und der physischen Erscheinung über die sinnliche Wahrnehmung hinaus falsche Qualitäten zuzuschreiben (vgl. V. 1149–1191).9 In ihrer Gegenwart überhöhe er die Erotik ihrer Ausstrahlung, deren eigentliche Funktion nur sexuelle Erregung mit nachfolgendem Koitus sein sollte; doch anstatt dem sexuellen physiologischen Drang Folge zu leisten, konzentriere sich der Verliebte ausschließlich auf eine Person, er schiebe die Befriedigung auf und müsse so psychisch und physisch negative Folgen ertragen (vgl. Lucr. 4, 1073–1120).10 Die Liebe ist nach epikureischen Gesichtspunkten ein furor, ein Zustand der emotionalen Besessenheit vom Bild der Geliebten.11 Dementsprechend lautet eines der ersten praecepta in der Diatribe des Lukrez, dass der Liebende die simulacra des Objekts seiner Begierde aus seinem Geist vertreiben und sich nicht der unersättlichen Liebesraserei hingeben solle: sed fugitare decet simulacra et pabula amoris / absterrere sibi atque alio conuertere mentem (Lucr. 4, 1063f.).

      Das Konzept, das die Wahrnehmung und die epikureische simulacra-Theorie umfasst, ist, wie Brown zeigt, wesentlich für den Zusammenhang des vierten Buches. Auch quantitative Betrachtungen belegen die zentrale Stellung der ‚Bilder‘: Das Wort simulacrum wird in Buch 4 allein 46 Mal verwendet, während es in den anderen Büchern nur ein bis fünf Mal erscheint.12

      Die dianoetischen simulacra, die in Träumen wahrgenommen werden (vgl. Lucr. 4, 962–1029),13 bilden den argumentativen Ausgangspunkt; über die anschließende Erörterung zu Bettnässen und Samenerguss im Schlaf (vgl. Lucr. 4, 1030–1036) werden die Themen „Traum“ und „Sex und Liebe“ miteinander verknüpft, bevor sich die lukrezische Persona in der folgenden diatribisch-invektivischen, dabei einen auch satirischen Tonfall aufweisenden,14 Attacke gegen den Liebeswahn wendet.15 Beide Körperfunktionen der Seele sind, so Brown, paradigmatische Formen von Illusion, da sie auf einer Fehlinterpretation der Bilder beruhen – denn im Fall des Traumes werden diese als im Moment existierend imaginiert16 und im Fall von Liebe als Gedächtnisbilder weiterverarbeitet und überhöht. So entstehe, da die mens das wahrgenommene Objekt, den Körper des geliebten Menschen, in seiner Bedeutung überinterpretiert und ihm falsche Bedeutung zuschreibt,17 eine Unersättlichkeit im Affekt Liebe, der selbst durch körperlichen Kontakt nicht befriedigt werden könne und zum Liebeswahn führe. Die Verbindung zu Traumvorstellungen bleibt bei Vergleichen innerhalb der Diatribe weiterhin präsent:

ut bibere in somnis sitiens cum quaerit, et umor
non datur, ardorem qui membris stinguere possit,
sed laticum simulacra petit frustraque laborat
in medioque sitit torrenti flumine potans,
sic in amore Venus simulacris ludit amantis
nec satiare queunt spectando corpora coram
nec manibus quicquam teneris abradere membris
possunt errantes incerti corpore toto. (Lucr. 4, 1097–1104)

      Lukrez beschreibt in seiner Diatribe, wie ein Liebender in seinem furor, dem Zustand seiner emotionalen Obsession, versucht, allein durch die erotisch stimulierenden Bilder sein Begehren zu stillen. Die rabies der Liebesleidenschaft äußert sich in dem Wahn, in welchen der Liebende dabei verfällt: Er frisst seine Geliebte mit Küssen fast auf, kratzt und beißt an ihr herum (vgl. Lucr. 4, 1073–1085) und verkennt, dass seine Triebe dadurch nicht befriedigt werden können.18 Wenngleich im Anschluss an den Traumvergleich das Wort simulacrum nicht mehr explizit verwendet wird, so ist es, wie auch Brown hervorhebt, dennoch im weiteren Verlauf der Diatribe mitzudenken: „[T]he general idea that love consists of an obsession with images persists […] in an altered form.“19

      Zu Beginn von Lukrez’ Attacke werden ‚remedia‘, Methoden zur Bekämpfung des krankhaften Liebeswahns, aufgeführt, mit denen die Gedächtnisbilder und Vorstellungen (überarbeitete εἴδωλα), die auch bei Abwesenheit der bzw. des Geliebten noch vorhanden sind,20 beseitigt werden können:


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sed fugitare decet simulacra et pabula amoris
absterrere sibi atque alio conuertere mentem
et iacere umorem collectum in corpora quaeque
nec retinere, semel conuersum unius amore,
et seruare sibi curam certumque dolorem.
ulcus enim uiuescit et inueterascit alendo,
inque dies gliscit furor atque aerumna grauescit,
si non prima nouis conturbes uulnera plagis
uulgiuagaque uagus Venere ante recentia cures
aut alio possis animi traducere motus. (Lucr. 4, 1063–1072)