Intertextualität und Parodie in Ovids Remedia amoris. Maria Anna Oberlinner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Maria Anna Oberlinner
Издательство: Bookwire
Серия: Classica Monacensia
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823303558
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καὶ ἡμέραι als strukturelles Signal für das Lehrgedicht zu werten ist. Auf die beiden Alternativen ‚Wehre den Anfängen‘ und ‚Warte, bis sich ein im Lauf befindlicher Liebesfuror von selbst erschöpft‘ entfallen dabei je 28 Verse (vgl. V. 79–134). Ein Aspekt dieser zeitlichen Differenzierung dürfte dem Leser der Remedia bereits aus der thematisch vielfältigen Konsolationsliteratur und philosophisch-seelentherapeutischen Schriften29 sowie aus medizinischer Literatur30 bekannt sein. So referiert Cicero – als Beispiel für die zweite Variante – in Buch 4 der Tusculanae disputationes Chrysipps Verbot, recentis quasi tumores animi (Cic. Tusc. 4, 63) zu behandeln, bevor er sich explizit zu remedia gegen den Affekt der Liebe äußert.31 Auch in Lukrez’ Lehrgedicht wird nach dem „καιρός“32 für eine mögliche Befreiung aus dem unerwünschten Zustand, in den Fesseln der Liebe gefangen zu sein (vgl. Lucr. 4, 1146–1148), gefragt:33

[…] ut melius uigilare sit ante,
qua docui ratione, cauereque ne inliciaris.
[…]
et tamen implicitus quoque possis inque peditus
effugere infestum, nisi tute tibi obuius obstes (Lucr. 4, 1144b–1150).

      3 Der literaturtheoretische Rahmen

      Im folgenden Methodenkapitel wird der theoretische Rahmen für die Analyse der Remedia amoris und ihrer produktiv-reorganisierenden Rezeption literarischer Gattungen und Prätexte erläutert. Dabei bewege ich mich im weiten Feld der Intertextualitätsdiskurse, die seit ihrer Begründung zahlreiche terminologische Differenzierungen erfahren haben und auch zu einem in der klassischen Philologie etablierten1 Messinstrument für die Beziehungen zwischen Texten geworden sind. Meine Absicht ist es nicht, alle Forschungspositionen zu referieren oder darüber hinaus eine neue Definition auf theoretischer Ebene zu liefern. Vielmehr geht es darum – unter besonderem Rückbezug auf die m. E. grundlegenden Thesen Broichs und Pfisters (1985) sowie die neueren, antike-spezifischen Studien von Stephen Hinds (1998) und Lowell Edmunds (2001) –, einen praktikablen Arbeitsbegriff von Intertextualität zu verwenden, der sich für die Analyse lateinischer und griechischer Texte einsetzen lässt, ohne dass dabei anachronistische Überblendungen und eine die historische Situierung der Texte missachtende ‚Theorietreue‘ den Blick für die literarischen Strukturen der Remedia amoris trüben. Das darauf aufbauende und von mir entwickelte Visualisierungsmodell (die Pyramidenstruktur der Intertextualität) steht ebenfalls im Dienst der praktischen Analysearbeit.

      Es erscheint mir auch sinnvoll, mit Definitionen zum Konzept der Intertextualität zu beginnen, weil der Terminus der Parodie, der für Ovids Umgang mit literarischen Traditionen wesentlich ist, in das Intertextualitätssystem integriert werden kann. Dieser Ansatz, Überlegungen zu Intertextualität und auch Parodie der Textarbeit voranzustellen, ist nicht neu – bereits Marion Steudel (1992) hat ihrer Untersuchung der Ars amatoria diese Perspektiven zugrunde gelegt und auch Edmunds (2001) zeigt in seiner allgemeinen Intertextualitätstheorie, dass die Parodie ein Weg ist, durch welchen der Kontext eines Bezugstextes aufgerufen werden kann.2 Mein Ziel ist es, beide Termini bzw. Konzepte in ihrer Verbindung zu betrachten3 und dabei, anders als Steudel, die antike Fundierung des Parodiebegriffs, wie sie besonders Rose in ihren Studien herausgearbeitet hat, zu berücksichtigen.4 Dabei distanziere ich mich, wie auch schon beim Intertextualitätsbegriff, von modernen, häufig reduktionistischen und mit dem antiken Verständnis nicht übereinstimmenden, Sichtweisen auf die Parodie und schaffe dadurch eine Ausgangsbasis für die philologische Untersuchung der Remedia amoris.

      3.1 Ein Intertextualitätskonzept für philologische Heuristik

      Im 1985 erschienenen Sammelband „Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien“ gibt Pfister einen konzisen und umfassenden Forschungsbericht über die Genese und Weiterentwicklung des Konzeptes Intertextualität, an den er Überlegungen zu einem heuristisch nutzbaren Intertextualitätsbegriff anschließt.1

      Während der Terminus selbst von Julia Kristeva in den 1960er Jahren2 maßgeblich geprägt wurde, hat er seinen Ausgangspunkt bei Michail Bachtins Definition der „Dialogizität“3 (im Rahmen seiner Dichotomie von Monologizität und Dialogizität), der sowohl eine kulturgeschichtliche/-philosophische als auch eine sprachbezogene Dimension eignet;4 sie ist bei ihm also noch nicht als ein rein literarisches Phänomen zu betrachten.5 Bei Kristeva findet sich in Anknüpfung an und in abgrenzender Fortführung von Bachtin eine erste konkrete Definition des Begriffs Intertextualität, da sie festhält, dass ein Text als „Mosaik von Zitaten“ zu verstehen sei.6 Sie operiert zudem mit einem „total entgrenzte[n] Textbegriff“, unter den sie „jedes kulturelle System und jede kulturelle Struktur“ subsumiert.7 Diese Art von Intertextualität macht alles zu einem lesbaren Text und damit auch alles zu einem intertextuell durchdrungenen Textgewebe.8

      In den auf diese Etablierung des Begriffs folgenden Jahrzehnten, in denen sich Kristeva selbst von ihrem Konzept entfernte,9 erfuhr der Intertextualitätsbegriff zahlreiche Modifizierungen, die sich zwischen den Ex­tremen des sehr weiten, poststrukturalistischen und eines engeren, strukturalistischen oder hermeneutischen Verständnisses, „in [dem] der Begriff der Intertextualität auf bewußte, intendierte und markierte Bezüge zwischen einem Text und vorliegenden Texten oder Textgruppen eingeengt wird“10, bewegen. Pfister versucht, einen ‚Weg der Mitte‘ zwischen den beiden Polen zu gehen, indem er einen eigenen Kriterienkatalog „zur Skalierung von Intertextualität […] [und] zur typologischen Differenzierung unterschiedlicher intertextueller Bezüge“11 definiert. Dabei unterscheidet er von den quantitativen Kriterien, welche die Bedeutung von intertextuellen Phänomenen an der numerischen Häufigkeit festmachen,12 sechs qualitative Kriterien. Während die Referentialität (1) die Intensität bezeichnet, mit der sich ein Text ‚aktiv‘ auf einen anderen bezieht, bezeichnet die Kommunikativität (2) den „Grad der Bewußtheit des intertextuellen Bezugs beim Autor wie beim Rezipienten“.13 Beide Aspekte finden sich, wenn man sie auf die Remedia bezieht, beispielsweise in den bereits zitierten Versen 43f. und 71f.: So spricht die ovidische Persona an diesen Stellen direkt an, dass die Kenntnis der Ars beim Leser vorausgesetzt wird.

      Ein solches Kommunikativitäts-Merkmal, welches das Subjekt nicht nur beim Lese-, sondern auch beim Schreibprozess in den Mittelpunkt stellt, tritt aber grundsätzlich in Konflikt mit Textuntersuchungsverfahren, die Vermutungen zur Intentionalität eines (historischen) Autors – auch wegen der Unmöglichkeit einer heuristisch gesicherten Aussage – nicht zulassen und sich auf Erkenntnisse, die beim Lektüreprozess gewonnen werden, beschränken.14 Der Nutzen dieses Ansatzes besteht aber darin, dass man intertextuelle Beobachtungen so nicht einer gewissen Beliebigkeit und Willkür anheimgibt und dass Untersuchungen so nicht zur bloßen Suche nach Parallelstellen werden.

      Auch Broich geht von bestimmten Markern als „Intertextualitätssignale[n]“15 aus, die auf beabsichtigte, messbare und für den neuen Text relevante und bedeutsame Intertexte hinweisen können, wobei er aber auch die Rolle des Rezipienten und seine Wahrnehmungsfähigkeit berücksichtigt:16 Marker liegen etwa vor, wenn andere literarische Texte „physisc[h]“ oder in Gesprächen o. ä. Gegenstand eines anderen Textes werden oder Figuren aus anderen Texten „leibhaftig auftreten“ („Markierung im inneren Kommunikationssystem“).17 Häufig finden sich aber die Formen von Markern, die in Verbindung mit Pfisters Kommunikationskriterium stehen und die auch für die intertextuelle Untersuchung der Remedia amoris bedeutsam sind, wenn nämlich nicht die Figuren innerhalb eines Werkes, sondern die Rezipienten des Textes die Anspielungen wahrnehmen. Beispielhafte Marker hierfür sind Zitate, explizite Nennung einer Quelle in Fußnoten, die Übernahme eines Titels oder Untertitels im Fall von Parodien oder Travestien, die Adaption von Mottos, Vor- und Nachworten („Markierung in Nebentexten“)18 sowie das Zitieren und Anspielen auf Namen, Stillagen, Handlungen o. ä. nicht in Paratexten, sondern im Haupttext selbst („Markierung im äußeren Kommunikationssystem“).19 Als Markierung im Haupttext kann, wenn man die Terminologie auf Ovids Werke und andere antike Texte anwendet,