Ich töte wen ich will. Fabio Stassi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fabio Stassi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783949558153
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Tabak und ein Zigarettenpapier. Bevor er ging, sagte er wie zur Warnung: »Der Brief da, der kommt aus einem Gefängnis.«

      Die Eingangstür fiel mit einem Ruck zu, der ihn zusammenzucken ließ, Django schnüffelte an den Reifen eines Mofas, dann gingen sie langsam in Richtung Piazza Vittorio, mischten sich unter die vielen Passanten.

      Das hier war ein Hafenviertel. Es hatte den typischen Geruch der Häfen, nach faulendem Obst, Bratküchen und orientalischen Gewürzen. Jeder Gehweg ein Marktstand: Hier verkaufte einer enorme Stoffbahnen, dort schnitt ein anderer Haare, wieder einer kämmte sie, manche spielten mit Würfeln auf der Straße, es war ein ständiges Kommen und Gehen samt Koffern und Stimmen. Ein Ort zum Ankern und zum Entladen, der sich am Morgen füllte und am frühen Nachmittag leerte. Viele standen untätig in merkwürdigen ethnischen Gewändern an der Straßenkreuzung, warteten, dass irgendein Kapitän ihnen eine Arbeit als Schiffsjunge oder Matrose auf dem nächsten Schiff anbot. Andere, in weißen Jacken mit orientalischem Schnitt, rauchten vor einem Kiosk, dann verschwanden sie in einer indischen oder chinesischen Spelunke oder tauchten in den Gängen der Metro unter. Den Neuankömmlingen wurden Legenden aufgetischt: Diese Stadt hätte sieben Könige gehabt, so viele wie ihre Hügel, und über dreihundert goldene Kuppeln, und abends würde sie mit bunten Lampen erleuchtet. Nur das Meer fehlte, sein salziger Vorbote hinter den Häusern, oder wenigstens das breite Delta eines Flusses, wenn nicht gar ein Ozean. Trotzdem ahnte man, dass ein ganz anderes Panorama in Reichweite war, man musste nur ein paar hundert Meter hinabgehen und die gewaltige weiße Zollstation des Bahnhofs durchqueren, um sich vor dem Horizont der Gleise und ihrem Netz aus Trossen, Stangen und Großmasten wiederzufinden. Dieses Viertel hätte Genua oder Lissabon oder Buenos Aires heißen können – mit seiner langen Reihe Landungsstege begrenzte Termini es wie eine Küste. Wie in den Häfen am Wasser war hier alles ein einziges Pulsieren zwischen dem, was abfährt, und dem, was zurückkehrt oder stillsteht; auch die Zeit staute sich, zusammen mit den Pfützen. Hierher kam man nicht, um zu entdecken, wer man geworden war, sondern wer man schon immer war.

      Eine Frau mit einem Einkaufswagen ging um Geld bittend vor ihm vorbei, doch Corso hatte keine Münzen und entfernte sich, Entschuldigungen murmelnd. Er überquerte wieder die Straße und setzte sich auf eine Bank. Ohne Besatzung, allein war er hier angekommen, wie man an einer Anlegestelle oder an einer Bucht ankommt, und jetzt fühlte er sich müde, müde auch all dieser Einsamkeit. Doch dies war die Stadt des Vergessens, Leute frühstückten im Caffé del Portico, jemand holte Geld an einem Bankautomaten, das Neonschild der Apotheke blinkte.

      Er bemerkte erst jetzt, dass er gegenüber dem Haus der alten Schwestern saß, die vor zwei Monaten niedergemetzelt worden waren. An die Hauswand hatte jemand mit weißer Farbe eine Ente gemalt, und auf der anderen Seite war das Graffiti eines Mädchens mit langen Wimpern. Alle Fenster des Hauses gingen auf den Park hinaus. Er betrachtete sie, während aus einem riesigen, quer geparkten Lastwagen eine automatische Leiter bis zum ersten Stock hinauffuhr. Es musste ein lang geplanter Umzug sein, doch das Auf und Ab der Möbel und Stühle auf einer mechanisch bewegten Plattform klang in seinen Ohren schaurig und endgültig wie die Räumung einer Wohnung, die ihre Besitzer verloren hat.

      Wieder suchte er seine Taschen nach einer Zigarette ab, fand aber nur den Briefumschlag, den Gabriel ihm ausgehändigt hatte. Der Brief kam aus der Strafanstalt Regina Coeli, Via della Lungara 29. Er riss ihn mit den Zähnen an einer Ecke auf; der Umschlag enthielt einen handgeschriebenen Zettel.

       Sehr geehrter Vince Corso, bitte entschuldigen Sie die Kürze dieser Nachricht, aber ich komme nicht gut zurecht mit dem Italienischen. Ich heiße Queequeg und habe meine Nachricht einer freiwilligen Sozialarbeiterin von L‘Aquilone überlassen, die mir geholfen hat, Ihnen zu schreiben, und die alle meine Fehler korrigiert hat. L‘Aquilone ist die Kooperative, die sich um unsere Freizeit kümmert, eines der wenigen Dinge, an denen es im Gefängnis ja nicht mangelt. Ich gestehe, dass ich mit Ihnen über viele und dringende Fragen sprechen muss. Fragen, die mit Büchern zu tun haben, aber nicht nur. Meine einzige Möglichkeit, dem Gefängnis zu entkommen, ist das Lesen, und vor kurzem habe ich von dem Beruf erfahren, dem sie nachgehen, und wie er in den Strafanstalten anderer Länder ausgeübt wird. Darum wollte ich Sie fragen, ob es möglich ist, dass wir uns in der kleinen Bibliothek meiner Abteilung treffen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie achtsam mit Ihrer Zeit umgehen. Kümmern Sie sich auch um sich, nicht nur um Ihre Patienten. Queequeg

      Am unteren Rand des Zettels stand eine Telefonnummer. Corso faltete den Zettel zusammen und steckte ihn zurück in den Umschlag. Er wunderte sich. Wie hatte sein Name die Mauern eines Gefängnisses durchdringen können? Und dann diese Unterschrift … Was waren diese vielen und dringenden Fragen, über die der Unbekannte mit ihm sprechen wollte? Und was meinte er mit diesem Kümmern Sie sich auch um sich?

      Ein Windstoß bewegte die Dattelpalmen und Granatapfelbäume im Park. Er hatte nicht die geringste Lust, einen Behandlungsraum in einem Gefängnis aufzumachen. Dieser Brief war eine Falle. Er steckte den Umschlag in die Hosentasche, löste die Hundeleine, und Django sprang auf, um sich an seinen Beinen zu reiben. Eine Gruppe indischer Frauen ging vorüber, musterte ihn neugierig. Hinter ihnen, unter den Arkaden, entfernte sich die magere, dunkle Gestalt eines Kommissars.

      Y

       Luttant quand même, suprême effort

      Nachdem er lange am Zeitungsstand vor der Endstation der Züge nach Centocelle gestanden hatte, war er in seine Dachwohnung zurückgekehrt, dann hatte er ein paar Stunden damit verbracht, die letzten Kapitel eines japanischen Krimis zu lesen, in dem ein alter Detektiv, dessen Jacketts noch zerschlissener waren als die seinen, im Fahrplan der Züge den Beweis für ein Verbrechen erkannte. Als er den Roman beendet hatte, hatte ihn ein Hungergefühl überkommen. Also war er, und diesmal allein, zum Gourmet-Markt am Bahnhof Termini hinuntergegangen.

      Er hätte nicht sagen können, wie lange er außer Haus gewesen war, er erinnerte sich nur, dass auf den Bildschirmen über ihm zwei Videos von Nirvana liefen, während er langsam an einem eiskalten Stout nippte. Eins war The man who sold the world. In dem anderen, das er noch nie gesehen hatte, starrte Kurt Cobain mit fahlem, geistesabwesendem Blick in die Kamera. Er hätte wohl besser eine letzte Platte als verstimmter Sänger aufnehmen sollen, anstatt sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen, hatte Corso gedacht und war mit diesem Solitär aus abstrusen Reuegefühlen nach Hause zurückgekehrt, doch seinem Abscheu hatte das nicht gutgetan. Bei den herrschenden Temperaturen schien der Asphalt sich aufzulösen und die Stadt, nach dem Regen am gestrigen Abend, zu verdunsten.

      Vor seinem Haus angekommen, hatte er den Schlüssel umgedreht und die Eingangstür aufgedrückt.

      Wie immer um diese Zeit war der Innenhof von Sonnenlicht überflutet, und er musste die Augen zukneifen. Er bemerkte kein besonderes Geräusch von den Fenstern der anderen Wohnungen, vielleicht nur Geschirrklappern, aber das konnte sowohl aus der Küche von Signora Manuela als auch von der Familie Malfenti kommen. Er öffnete die zweite Tür am Ende des Innenhofs und ging zum Aufzug, es war zu schwül, um zu Fuß hinaufzusteigen, und selbst die paar Stufen nach dem letzten Treppenabsatz kosteten ihn große Mühe.

      Als er seine Wohnungstür angelehnt sah, dachte er an Gabriel, der eine Kopie des Schlüssels hatte. Schüchtern rief er ins Innere, dann stieß er die Tür auf. Der Fußboden war mit Büchern und zerbrochenen Schallplatten übersät, die Stühle umgeworfen, die Schubladen des Schreibtisches herausgezogen. Auch der Ventilator und die Sofakissen lagen auf dem Boden. Und ein Haufen ungeschriebener, zerrissener Postkarten.

      Er ging einen Schritt vorwärts und hob das leere Cover eines alten Albums von Sylvie Vartan auf, dazu eine aus einem Buch herausgerissene Seite. Die Türen des Schranks auf dem Hängeboden standen offen, Häufchen von Unterwäsche lagen auf dem Bett.

      Benommen blieb er stehen, betrachtete das unbegreifliche Chaos.

      Kannten sie seine Uhrzeiten? Hatten sie ihn ausspioniert? Oder war das der Raubzug eines Diebs auf der Durchreise?

      Er ging bis zur Mitte der Einzimmerwohnung. Der Ledersessel, auf dem seine Patienten Platz nahmen, stand mit dem Rücken zu ihm, und in dieser ungewöhnlichen Position inmitten des Raums kündete er weitere,