Ich töte wen ich will. Fabio Stassi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fabio Stassi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783949558153
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dasselbe Gefühl wie damals, als sie mit ihm im Zirkus waren und ein Zauberkünstler Gegenstände nach Belieben verschwinden und wieder auftauchen ließ. Er hat den Eindruck, dass das Licht sich im ganzen Zimmer verbreitet, wie Wasser aus einem Loch.

      Da ist der Schrank,

      der Spiegel neben dem Fenster,

      und im Spiegel …

      Jetzt spürt der Junge, wie ihm etwas Feuchtes über die Wangen rinnt. In dem Handbuch über Raubvögel hat er gelesen, dass Eulen drei Lider haben, die brauchen sie, um ihre beste Waffe zu schützen. Aber er hat nur zwei, und sie genügen nicht, um den Weinkrampf aufzuhalten, der ihn jetzt schüttelt.

      Die erste Träne ist schon bis zum Mundwinkel geflossen. Er kann mit der Zunge das Salzige schmecken. Aber die zweite hat einen anderen Geschmack. Sie schmeckt nach Eisen, nach Graphit. Seine Arme zittern, den Bleistift hält er noch umklammert.

      Er macht zwei Schritte zurück, bis er die Wand des Flurs im Rücken spürt.

      Dann bricht er auf dem Boden zusammen.

      Eine Stunde später fand der Vater ihn in dieser Position. Es war ein anstrengender Tag. Er hatte eine sehr komplizierte finanzielle Transaktion wagen müssen. Würde sie glücken, dann würden er und die anderen ein Vermögen machen. Aber er war nicht sicher, ob es gut ausginge. In den letzten Monaten war nichts mehr so gelaufen, wie es sollte, das Ansehen, das er sich in gewissen Kreisen erworben hatte, drohte zu verpuffen. Das Risiko war enorm, und er hatte den Einsatz erhöht. Er war erschöpft, fühlte sich bleischwer. Er hängte seine Jacke an den Haken im Eingang, dann ging er in Richtung Bad, um sich das Gesicht zu waschen.

      Zuerst sah es nur aus wie ein Haufen Schmutzwäsche, den seine Frau dort in den Flur geworfen hatte. Er blieb in ein paar Metern Entfernung stehen und versuchte, klarer zu sehen. Es war, als würde sein Gehirn sich weigern, den Anblick zu benennen. Eine undefinierbare Masse aus Formen und Farben. Erst nach einem endlos langen Augenblick begriff er, dass diese reglose Marionette ohne Schuhe, die vergeblich auf die Wand starrte, die er vor kurzem hatte streichen lassen, sein Sohn war. Anstelle seiner Augen waren da zwei Löcher, und in den blutverschmierten Händen hielt er einen zerbrochenen Bleistift.

Mittwoch, 29. Juni 2016

      Z

       Je crois les étreindre encore

      In jener Nacht Ende Juni, so sagte Vince Corso später aus, habe er geträumt, dass ein Schwarm Nachtfalter aus dem Portal der Basilika Santa Maria Maggiore strömte und die Straßen Roms heimsuchte. Ein unwichtiges Detail, aber es war das erste, was ihm einfiel, als er sämtliche Ereignisse jenes Tages nacheinander erzählen sollte. Er hätte damit beginnen müssen, dass die Diebe zwischen Mittag und zwei Uhr nachmittags in seine Wohnung eingedrungen waren, und dass die Tür auf den ersten Blick keine Spuren von Gewaltanwendung zeigte. Das Namensschild war an seinem Platz, die Tür nur angelehnt. Das Türschloss – eines von herkömmlicher Machart, das weder Signora Doliner noch die Vormieter je ersetzt hatten – war mit einem Multipick-Dietrich geöffnet worden, ein einfacher, lautloser Vorgang. In dem Mietshaus hielten sich um diese Zeit nur wenige Rentner und zwei Familien aus Bangladesch auf. Die Hausmeisterloge war geschlossen, das Treppenhaus menschenleer, alle Fenster lagen im Schatten der Mittagsruhe.

      Das und nichts anderes hätte er sagen sollen: sich damit begnügen, das mutmaßliche Zeitfenster der strafbaren Handlung anzugeben, die Umstände darzulegen, unter denen er die Tat entdeckt hatte, den Zustand, in dem Unbekannte nach ihrem unerklärlichen Raubzug seine Wohnung hinterlassen hatten, präzise zu beschreiben. Doch statt sich strikt an die Tatsachen zu halten, sprach Corso von Träumen und Vorahnungen.

      Für ihn hatte die Geschichte mit dem verstörenden Auftauchen dieser Myriade von Nachtfaltern eingesetzt, die seinen Schlaf empfindlich gestört hatte, bevor jemand ein paar Stunden später in seine Wohnung eingedrungen war, um sie zu verwüsten. Ihre Flügel waren aschgrau mit langen, messerförmigen Enden, und ihr Schlagen – das Schlagen Hunderter winziger, mit Zeichnungen geäderter, grauer Häute – hatte eine Welle aus Staub und Wind rings um den Schwarm aufgewirbelt. Sogar die Bäume am Ende der Via Merulana hatte sie erfasst, die Pflanzen auf den Fensterbrettern hatten sich gebogen, die Straßenlaternen entlang der Fußgängerwege waren erloschen.

      Um der Genauigkeit willen hätte er hinzufügen müssen, dass die Stadt am Abend zuvor nach zwei Tagen drückender Hitze von einem tropischen Wolkenbruch verheert worden war: Die Fahrbahnen und Gehwege waren überschwemmt, Metrostationen, Unterführungen und Keller vollgelaufen, Bäume entwurzelt, Ampeln und die Straßenbeleuchtung lahmgelegt. Doch das hielt er für überflüssig, denn der Geruch des Regen hatte die Luft so intensiv erfüllt, dass er in die Träume vieler Menschen eingedrungen war. In seinem erschien der Asphalt noch nass und glänzend, das Licht schwach, wie auf manchen alten Schwarzweißfotos. In diesen verunstalteten Straßen hatte sich der Flug der Insekten ohne erkennbares Ziel fortgesetzt, hysterisch, aber als geschlossener Schwarm, und erst als auch der letzte Nachtfalter verschwunden war, hatte Corso endlich seine Schritte in den leeren Eingeweiden des Viertels widerhallen hören, aber es war ein hinkender Gang, der Gang eines Menschen, dem plötzlich etwas genommen war.

      Beim Aufwachen hatte ihn die heftige Sehnsucht nach Feng wieder als physischer Schmerz erschüttert. Jede Einzelheit der letzten Nacht, in der sie bei ihm geschlafen hatte, bevor sie abreiste, hatte er tagelang immer wieder durchlebt: der Druck ihrer Hüften im rosigen Licht des Sonnenaufgangs, die Silhouette ihres Rückens, ihre Art zu küssen. Trotzdem hatte er sie dann gehen lassen.

      Nichts von ihr war in dieser Wohnung geblieben. Kein Ring, kein Geschenk. Ihre Beziehung war von so kurzer Dauer, dass sie dafür keine Zeit gehabt hatten. Wenn er etwas, was ihnen gemeinsam gehörte, an dieses Museum in Zagreb hätte schicken wollen, wo unbedeutende Gegenstände und Spuren gesammelt werden, die ein Paar nach seiner Trennung zurückgelassen hat, hätte er nicht gewusst, was er schicken sollte. Wie viel Zeit war vergangen seit dem Sommer, als er dieses Museum besucht hatte? Er erinnerte sich nur, dass er bei der Gelegenheit ein neues Schreibheft eingeweiht hatte, das Notizbuch der abgebrochenen Beziehungen. Auf den ersten Seiten hatte er sorgfältig einige der Ausstellungsstücke in diesem seltsamen Ort vermerkt: die Beinprothese, die ein Kriegsveteran seiner Ex-Frau geschickt hatte; die Tischleraxt, mit der eine Frau aus Berlin die Möbel ihrer Wohnung in Stücke gehauen hatte; ein Brautkleid; ein Schiffsmodell; ein roter Slip; eine angeschlagene Tasse; ein Schlüssel. Dieses Museum war ein Tribut an die Ambivalenz jeder Erinnerung. Nein, es gab keine Spur von Feng in seiner Dachwohnung, kein vergessenes Kleid, kein Buch, kein Foto. Er hätte sie auch nie wiedersehen können, und nichts hätte ihren vorübergehenden Aufenthalt in seinem Leben bezeugt.

      Er hatte sich mit fast tauben Gliedmaßen erhoben und überlegt, was er am Vorabend gegessen, wie sehr er sich den Mund und die Kehle mit Tabak vergiftet hatte. Doch sein Unwohlsein war anderer Art.

      Einmal hatte seine Mutter ihn, er war noch klein, zu einer übergewichtigen, bizarren Dame gebracht, die die Zauberin genannt wurde und in der Nähe von Antibes wohnte. Sie hatten ein Zimmer betreten, in dem es nach Weihrauch roch. Mein Sohn erkrankt manchmal an Traurigkeit, hatte seine Mutter gesagt. Die Zauberin hatte seine Hände genommen, dann hatte sie ihn und seine Mutter angeschaut, den Mund zu einer mitleidigen Grimasse verzogen.

      Er zündete das Gas unter der Espressokanne an. Doch weder ein doppelter Kaffee noch eine Schallplatte von Charles Trenet konnten seine Nervosität lindern. Er stellte sich unter die Dusche, dann lieferte er sich, zusammen mit Django, wieder dem Stadtviertel aus, in das es ihn verschlagen hatte und das er längst als eine Heimat und ein Versprechen empfand.

      In der Hausmeisterloge ordnete Gabriel gerade die Post. Er öffnete die Fensterluke, um ihm einen Brief zu übergeben.

      »Die Hausnummer ist falsch, aber jetzt wissen ja sogar die Boten wo du wohnst.«

      Corso steckte ihn ungesehen ein und überflog die Schlagzeilen der Tageszeitung, die aufgeschlagen auf dem Tisch lag.

      »Auch die Chinesen ziehen von hier weg«, sagte Gabriel mit seinem unverwechselbaren südamerikanischen Akzent.

      Corso