»Was ich sagen wollte, Sie wissen doch Bescheid«, bat er Trublot. »Sagen Sie mal, was für eine Krankheit hat Frau Campardon eigentlich? Ich sehe doch, daß die Leute ein untröstliches Gesicht machen, wenn von ihr die Rede ist.«
»Aber, mein Lieber«, erwiderte der junge Mann, »sie hat ...« Und er neigte sich zu Octaves Ohr.
Octave lauschte, sein Gesicht lächelte zuerst, wurde dann länger und länger, nahm den Ausdruck tiefer Verblüffung an.
»Nicht möglich!« sagte er.
Da schwor Trublot bei seinem Ehrenwort. Er kenne eine andere Dame, der es genauso gehe.
»Übrigens«, fuhr er fort, »kommt es als Folge einer Entbindung manchmal vor, daß ...« Und er begann wieder leise zu sprechen.
Octave war überzeugt und wurde traurig. Er, der einen Augenblick so allerlei Ideen gehabt, der sich einen Roman ausgedacht hatte: der Architekt sei anderswo gebunden und treibe ihn seiner Frau zu, um ihr Ablenkung zu verschaffen! Auf jeden Fall wußte er nun, daß sie wohlbehütet war. In der Erregung über diese Damenunterwäsche, in der sie wühlten, rieben sich die beiden jungen Leute aneinander und vergaßen, daß man sie hören konnte.
Gerade war Frau Juzeur dabei, Frau Josserand anzuvertrauen, welchen Eindruck Octave auf sie gemacht hatte. Sie halte ihn zweifellos für sehr anständig, aber ihr sei Herr Auguste Vabre lieber. Dieser stand in einer Ecke des Salons und verhielt sich schweigsam, weil er unbedeutend und von seiner allabendlichen Migräne geplagt war.
»Mich wundert aber doch, liebe Madame Josserand, daß Sie für Ihre Berthe nicht an ihn gedacht haben. Ein Junggeselle voller Klugheit, der sein eigenes Geschäft hat. Und er braucht eine Frau, ich weiß, daß er sich zu verheiraten trachtet.«
Frau Josserand hörte überrascht zu. In der Tat, an den Modewarenhändler hätte sie nie gedacht.
Indessen ließ Frau Juzeur nicht locker, denn sie hatte in all ihrem Unglück die Leidenschaft, auf die Glückseligkeit anderer Frauen hinzuarbeiten, weshalb sie sich um alle Herzensangelegenheiten im Hause kümmerte. Sie versicherte, Auguste schaue Berthe unaufhörlich an. Schließlich berief sie sich auf ihre Erfahrung mit Männern: Herr Mouret werde sich niemals einfangen lassen, während dieser biedere Herr Vabre sehr bequem, sehr vorteilhaft zu haben sei.
Aber Frau Josserand, die Herrn Vabre mit dem Blick abschätzte, kam entschieden zu dem Urteil, daß ein solcher Schwiegersohn nicht gerade ein Prunkstück für ihren Salon sein würde.
»Meine Tochter kann ihn nicht ausstehen«, sagte sie, »und ich werde niemals ihrem Herzen zuwiderhandeln!«
Ein großes, mageres Fräulein hatte soeben eine Phantasie über die »Weiße Dame15« vorgetragen. Da Onkel Bachelard im Eßzimmer eingeschlafen war, kam Gueulin wieder mit seiner Flöte zum Vorschein und machte eine Nachtigall nach. Man hörte übrigens nicht zu, Bonnauds Geschichte hatte sich herumgesprochen. Herr Josserand saß erschüttert da, die Väter hoben die Arme, den Müttern blieb die Luft weg. Wie? Bonnauds Schwiegersohn war ein Clown? Wem sollte man da noch trauen? Und die Eltern bekamen in ihrer Verheiratungsgier Alpträume von vornehmen Zuchthäuslern im Frack. Bonnaud hatte sich in der Tat so sehr gefreut, seine Tochter unterzubringen, daß er sich trotz seiner strengen Vorsicht als peinlich genauer Chef der Buchhaltungsabteilung begnügt hatte, flüchtige Erkundigungen einzuziehen.
»Mama, der Tee ist serviert«, sagte Berthe, die mit Adèle die beiden Türflügel öffnete.
Und während die Gäste langsam ins Eßzimmer hinübergingen, trat sie zu ihrer Mutter und flüsterte: »Jetzt langtʼs mir aber! Er will, daß ich dableibe und ihm Geschichten erzähle, sonst will er alles kurz und klein schlagen, sagt er!«
Auf einem zu schmalen grauen Tischtuch war eines jener mühselig angerichteten Teegedecke zu sehen, eine bei einem benachbarten Bäcker gekaufte Brioche, die von Petits Fours und belegten Brötchen flankiert war. An beiden Tischenden verdeckte eine Blumenpracht, wundervolle und teure Rosen, die Mittelmäßigkeit der Butter und den alten Staub auf den Biskuits. Man brach in Bewunderung aus. Neidgefühle wurden entfacht: diese Josserands richteten sich bestimmt noch zugrunde, um ihre Töchter unter die Haube zu bringen. Und während die Gäste scheele Blicke auf die Blumensträuße warfen, kippten sie sich mit saurem Tee voll, fielen ohne Vorsicht über die altbackenen Kuchen und die nicht durchgebackene Brioche her, da sie wenig zu Abend gegessen hatten und nur noch daran dachten, mit vollem Bauch schlafen zu gehen. Für diejenigen, die keinen Tee mochten, reichte Adèle Gläser mit Johannisbeersaft herum. Er sei köstlich, wurde erklärt.
Währenddessen schlief der Onkel in einer Ecke. Man weckte ihn nicht, höflich tat man sogar so, als sehe man ihn nicht. Eine Dame sprach von den Strapazen des Geschäftslebens. Berthe war eifrig bemüht, sie bot belegte Brötchen an, trug Tassen mit Tee umher, fragte die Herren, ob sie noch etwas Zucker wünschten. Aber sie konnte es nicht bewältigen, und Frau Josserand suchte ihre Tochter Hortense, da gewahrte sie diese mitten im menschenleeren Salon, wo sie mit einem Herrn plauderte, von dem nur der Rücken zu sehen war.
»Na ja«, stieß sie zornentbrannt hervor. »Endlich kommt er ja!«
Gezischel lief um. Das war dieser Verdier, der seit fünfzehn Jahren mit einer Frau zusammen lebte und darauf wartete, Hortense heiraten zu können. Jeder kannte die Geschichte, die jungen Damen wechselten Blicke; aber man vermied es, davon zu sprechen, man kniff schicklichkeitshalber die Lippen zusammen. Octave, der in Kenntnis gesetzt worden war, betrachtete mit interessierter Miene den Rücken des Herrn. Trublot kannte die Geliebte, ein braves Mädchen, eine ehemalige Fose, die solide geworden sei, die jetzt, wie er sagte, ehrbarer sei als die allerehrbarste Bürgersfrau, ihren Mann umhegte und seine Wäsche in Schuß halte; und er war von brüderlicher Sympathie für sie erfüllt. Während man sie beide vom Eßzimmer aus musterte, machte Hortense mit der ihr eigenen Verdrießlichkeit eines unberührten und wohlerzogenen Mädchens Verdier wegen seiner Verspätung eine Szene.
»Aha, Johannisbeersaft!« sagte Trublot, als er Adèle mit dem Tablett in der Hand vor sich sah. Er schnupperte daran, wollte keinen haben. Als das Dienstmädchen sich aber umdrehte, wurde es vom Ellbogen einer dicken Dame gegen Trublot gedrückt, und er kniff das Mädchen heftig ins Kreuz.
Adèle lächelte, sie kam mit dem Tablett zurück.
»Danke, nein«, erklärte er. »Nachher.«
Rings um den Tisch hatten Damen Platz genommen, während die Herren hinter ihnen im Stehen aßen. Ausrufe wurden laut, eine Begeisterung äußerte sich, die in den vollen Mündern erstickte.
Die Herren wurden herbeigerufen.
Frau Josserand rief: »Ach ja, richtig, daran habe ich gar nicht mehr gedacht ... sehen Sie doch, Herr Mouret, Sie sind doch ein Kunstliebhaber.«
»Passen Sie auf, der Dreh mit dem Aquarell!« flüsterte Trublot, der das Haus kannte.
Es war etwas Besseres als ein Aquarell. Wie zufällig stand eine Porzellanschale auf dem Tisch; auf dem Boden der Schale war, eingerahmt in die nagelneue Fassung aus überfirnißter Bronze, das »Junge Mädchen mit dem zerbrochenen Krug« in verwaschenen Farbtönen gemalt, die von hellem Lila bis zu zartem Blau reichten. Berthe lächelte inmitten des Lobes.
»Das gnädige Fräulein hat ja alle Talente«, sagte Octave mit seiner liebenswürdigen Art. »Oh, wie das abgetönt ist, und ganz genau, ganz genau!«
»Was die Zeichnung betrifft, so verbürge ich mich für sie!« erklärte Frau Josserand triumphierend. »Es ist kein Haar mehr oder weniger vorhanden ... Berthe hat das hier nach einem Stich kopiert. Im Louvre16 sind wirklich gar zu viele Aktbilder zu sehen, und das Publikum ist dort manchmal so gemischt!«
Um diese Wertung abgeben zu können, hatte sie die Stimme gedämpft, von dem Wunsch erfüllt, den jungen Mann davon in Kenntnis zu setzen, daß es, wenn ihre Tochter auch Künstlerin war, durchaus nicht in Schamlosigkeit ausartete. Übrigens mußte Octave kühl auf sie wirken, sie fühlte, daß die Schale nicht zog, und