Dieses Kind mit seinem naiven, ungetrübten Blicke für das Leben war der Kompaß, der ihnen den Grad der Abweichung von dem Wege der Pflicht angab, von dem Wege, den sie zwar kannten, aber nicht kennen wollten.
Aber diesmal war der kleine Sergei nicht zu Hause, und sie war völlig allein; sie saß auf der Terrasse und wartete auf die Rückkehr ihres Sohnes, der spazierengegangen und dabei vom Regen überrascht worden war. Sie hatte einen Diener und ein Mädchen ausgeschickt, um ihn zu suchen, und saß nun da und wartete. Sie trug ein weißes Kleid mit breiter Stickerei und saß in einer Ecke der Terrasse hinter blühenden Gewächsen und hörte den herankommenden Wronski nicht. Den schwarzlockigen Kopf vorbeugend, preßte sie die Stirn gegen eine kalte Gießkanne, die auf dem Geländer stand, und hatte ihre beiden schönen Hände mit den ihm so wohlbekannten Ringen um die Gießkanne gelegt. Die Schönheit ihrer ganzen Gestalt, des Kopfes, des Halses, der Arme überraschte Wronski jedesmal wie etwas Neues, Unerwartetes. Er blieb stehen und betrachtete sie voll Entzücken. Aber kaum schickte er sich an, auf der Terrasse einen Schritt zu tun, um sich ihr zu nähern, als sie auch schon seine Annäherung bemerkte, die Gießkanne zurückstieß und ihm ihr heißes Gesicht zuwandte.
»Was ist Ihnen? Sind Sie nicht wohl?« fragte er auf französisch, indem er zu ihr hintrat. Er hatte auf sie zustürzen wollen; aber da ihm einfiel, daß es möglicherweise jemand sehen könnte, blickte er nach der Verandatür und errötete, wie er jedesmal errötete, wenn er fühlte, daß er auf seiner Hut sein und sich umschauen müsse.
»Nein, ich bin ganz gesund«, antwortete sie, indem sie sich erhob und die Hand, die er ihr hinstreckte, kräftig drückte. »Ich hatte dich nicht erwartet.«
»Mein Gott, was für kalte Hände!« sagte er.
»Du hast mich erschreckt«, erwiderte sie. »Ich bin allein und warte auf meinen kleinen Sergei; er ist spazierengegangen; sie müssen von dieser Seite kommen.« Aber obwohl sie sich alle Mühe gab, ruhig zu sein, zitterten doch ihre Lippen.
»Verzeihen Sie mir, daß ich gekommen bin; aber ich konnte den Tag nicht hingehen lassen, ohne Sie zu sehen«, fuhr er auf französisch fort; dieser Sprache bediente er sich stets, um einerseits das zwischen ihnen unmögliche kühle russische Sie, anderseits das gefährliche russische Du zu vermeiden.
»Was ist denn zu verzeihen? Ich freue mich ja so!«
»Aber Sie sind nicht wohl, oder Sie haben einen Kummer«, fuhr er fort, ohne ihre Hand loszulassen, und beugte sich über sie. »Woran haben Sie gedacht?«
»Immer an ein und dasselbe«, antwortete sie lächelnd.
Sie sagte die Wahrheit. Man hätte sie fragen können, wann man wollte, woran sie denke, immer hätte sie wahrheitsgemäß antworten können, sie denke an ein und dasselbe, an ihr Glück und an ihr Unglück. So hatte sie gerade jetzt, wo er zu ihr getreten war, daran gedacht, warum doch andere Frauen, zum Beispiel Betsy (sie wußte von deren geheimem Verhältnis zu Tuschkewitsch), von all dergleichen so gar keine Sorgen hatten, während sie deswegen solche Qual ausstehen mußte. Heute hatte dieser Gedanke, aus bestimmtem Anlaß, sie ganz besonders gepeinigt. Sie fragte ihn nach dem Rennen. Er antwortete ihr, und da er sah, daß sie erregt war, so begann er, in der Absicht, sie zu zerstreuen, ihr im allerharmlosesten Tone Einzelheiten von den Vorbereitungen zum Rennen zu erzählen.
›Soll ich es ihm sagen oder nicht?‹ dachte sie, während sie in seine ruhigen, freundlichen Augen blickte. ›Er ist so glücklich, so ganz mit seinem Rennen beschäftigt, daß er meine Nachricht nicht in der gehörigen Weise auffassen, nicht die ganze Bedeutung dieses Ereignisses für uns verstehen wird.‹
»Aber Sie haben mir noch nicht gesagt, woran Sie dachten, als ich kam«, sagte er, sein Erzählen unterbrechend. »Bitte, sagen Sie es mir!«
Sie antwortete nicht, sondern blickte ihn, den Kopf ein wenig vorneigend, von unten her mit ihren schönen, durch die langen Wimpern hindurchleuchtenden Augen fragend an. Ihre Hand, die mit einem abgerissenen Blatte spielte, zitterte leise. Er sah dies, und sein Gesicht nahm den Ausdruck jener Ergebenheit, jener sklavischen Unterwürfigkeit an, der von jeher einen so starken Eindruck auf sie gemacht hatte.
»Ich sehe, daß etwas vorgefallen ist. Kann ich etwa auch nur einen Augenblick ruhig sein, wenn ich weiß, daß Sie einen Kummer haben, den ich nicht mit Ihnen teilen darf? Um Gottes willen, reden Sie!« bat er noch einmal in flehendem Tone.
›Ja‹, dachte sie, während sie ihn immer noch ebenso anblickte und fühlte, daß ihre Hand mit dem Blatte immer stärker zitterte, ›ich würde es ihm nie verzeihen, wenn er nicht die ganze Bedeutung dieses Ereignisses verstehen sollte. Es ist besser, wenn ich nichts sage; wozu soll ich ihn auf die Probe stellen?‹
»Um Gottes willen, reden Sie!« drängte er von neuem, indem er ihre Hand ergriff.
»Soll ich es sagen?«
»Ja, ja, ja!«
»Ich bin in anderen Umständen«, sagte sie leise und langsam.
Das Blatt in ihrer Hand zitterte immer heftiger, aber sie wandte die Augen nicht von Wronski ab, um zu sehen, wie er diese Mitteilung aufnehmen werde. Er erblaßte, wollte etwas erwidern, hielt aber inne, ließ ihre Hand los und senkte den Kopf. ›Ja, er hat die ganze Bedeutung dieses Ereignisses verstanden‹, dachte sie und drückte ihm dankbar die Hand.
Trotzdem irrte sie sich in der Annahme, daß er die Bedeutung dieser Nachricht in derselben Weise verstehe, wie sie sie als Frau verstand. Bei dieser Mitteilung hatte er mit verzehnfachter Stärke einen Anfall jenes sonderbaren, ihn mitunter überkommenden Gefühls des Ekels gegen irgend jemand erlitten; aber zugleich hatte er erkannt, daß jene Krisis, die er herbeigewünscht hatte, jetzt eingetreten war, daß es unmöglich war, die Sache länger vor dem Ehemanne zu verheimlichen, und daß mit Notwendigkeit dieser unnatürlichen Lage bald auf die eine oder andere Weise ein Ende gemacht werden müsse. Aber außerdem war ihre Erregung in physischer Hinsicht auch auf ihn übergegangen. Er sah sie mit einem Blicke voll Rührung und Ergebenheit an, küßte ihr die Hand, stand auf und ging schweigend auf der Terrasse auf und ab.
»Ja«, sagte er dann, indem er entschlossen zu ihr trat. »Weder Sie noch ich haben unser Verhältnis als eine Spielerei betrachtet, und jetzt ist unser Schicksal entschieden. Diesem Lügenspiel, in dem wir leben, müssen wir unbedingt ein Ende machen«, äußerte er, sich nach allen Seiten umschauend.
»Ein Ende machen? Wie sollen wir ein Ende machen, Alexei?« fragte sie leise. Sie hatte sich jetzt beruhigt, und auf ihrem Gesichte strahlte ein zärtliches Lächeln.
»Du mußt deinen Mann verlassen und dein Leben mit dem meinen vereinigen.«
»Es ist auch so schon vereinigt«, antwortete sie kaum hörbar.
»Ja, aber völlig, völlig.«
»Aber wie soll ich das machen, Alexei? Belehre mich, wie ich das machen soll«, sagte sie mit trübem Spott über die Trostlosigkeit ihrer Lage. »Gibt es denn einen Ausweg aus einer solchen Lage? Bin ich denn nicht die Frau meines Mannes?«
»Aus jeder Lage gibt es einen Ausweg«, erwiderte er. »Man muß sich nur zu einem Entschlusse aufraffen. Alles ist besser als die Lage, in der du jetzt lebst. Ich sehe ja, wie du dich um alles quälst, um die Meinung der Welt und um deinen Sohn und um deinen Mann.«
»Ach,