»Nach dem Stall!« rief er dem Kutscher zu und wollte schon den Brief und den Zettel hervorholen, um sie durchzulesen; aber dann änderte er seine Absicht, um nicht vor der Besichtigung des Pferdes seine Gedanken zu zerstreuen. ›Nachher!‹ sagte er bei sich.
21
Der behelfsmäßige Stall, eine Bretterbude, war unmittelbar neben der Rennbahn eingerichtet, und dahin hatte sein Pferd nach seiner Anordnung schon tags zuvor übergeführt werden sollen. Er hatte es noch nicht gesehen. In diesen letzten Tagen hatte er das Tier nicht selbst zur Vorübung geritten, sondern den Trainer damit beauftragt, und jetzt wußte er gar nicht, in welchem Zustand sein Pferd angekommen war und sich augenblicklich befand. Kaum war er aus dem Wagen gestiegen, als sein Stallknecht, der sogenannte Junge, der seinen Wagen schon von weitem erkannt hatte, den Trainer herausrief. Der dürre Engländer, in hohen Stiefeln und kurzer Jacke, rasiert bis auf einen Haarbüschel am Kinn, kam ihm mit dem ungeschickten Gange der Jockeis, die Ellbogen auseinanderspreizend und sich hin und her wiegend, entgegen.
»Nun, was macht Frou-Frou?« fragte Wronski auf englisch.
»All right, Sir!« sagte die Stimme des Engländers irgendwo im Inneren der Kehle. »Es ist besser, wenn Sie nicht zu ihr gehen«, fügte er hinzu und lüftete seinen Hut. »Ich habe ihr den Kappzaum angelegt, und das Pferd ist aufgeregt. Es ist besser, wenn Sie nicht hingehen; das beunruhigt das Pferd.«
»Nein, ich will doch hingehen. Ich möchte sie gern sehen.«
»Nun, dann kommen Sie«, erwiderte stirnrunzelnd der Engländer, immer in derselben Weise, ohne den Mund zu öffnen, und ging, mit den Ellbogen umherarbeitend, mit seinem haltlosen Gange voran.
Sie betraten den kleinen Hof vor der Baracke. Der diensttuende Stallknecht, ein hübscher, strammer Bursche in sauberer Jacke, mit einem Besen in der Hand, begrüßte die Eintretenden und schloß sich ihnen an. In der Baracke standen fünf Pferde in den Boxen, und Wronski wußte, daß heute auch sein wichtigster Mitbewerber hergebracht sein und dastehen mußte, Machotins Gladiator, ein fünf Werschok hoher Fuchs. Noch lieber als seinen eigenen Renner hätte Wronski diesen Gladiator gesehen, den er noch nicht kannte; aber er wußte, daß er ihn nach den Anstandsgesetzen des Rennsports nicht sehen dürfe, ja daß es sogar unpassend sei, nach ihm auch nur zu fragen. Aber während er den Gang entlang schritt, öffnete der Stallknecht die Tür zu der zweiten Box links, und Wronski erblickte einen kräftig gebauten Fuchs mit weißen Füßen. Er wußte, daß dies Gladiator war; aber mit einem Gefühle, wie wenn sich jemand von einem fremden geöffneten Briefe abwendet, drehte er sich weg und ging zu Frou-Frous Box.
»Hier ist das Pferd von Mak ... Mak ... ich kann diesen Namen nie ordentlich herausbekommen«, sagte der Engländer über die Schulter weg und wies mit dem Daumen, an dem ein schmutziger Nagel saß, nach der Box Gladiators.
»Von Machotin? Ja, das ist mein einziger ernsthafter Gegner«, erwiderte Wronski.
»Wenn Sie ihn ritten«, sagte der Engländer, »würde ich auf Sie setzen.«
»Frou-Frou hat mehr Temperament, Gladiator mehr Kraft«, versetzte Wronski und lächelte über das seiner Reitkunst gespendete Lob.
»Beim Hindernisreiten kommt alles auf das Reiten und den pluck an«, bemerkte der Engländer.
Pluck, das heißt Energie und Kühnheit, fühlte Wronski nicht nur in ausreichendem Maße in sich, sondern, was noch weit wichtiger war, er war auch fest überzeugt, daß niemand diesen pluck in höherem Grade besitzen könne als er.
»Sie wissen genau, daß es nicht nötig war, das Pferd schwitzen zu lassen?«
»Nein, es war nicht nötig«, antwortete der Engländer. »Bitte, sprechen Sie nicht laut! Das Pferd regt sich auf«, fügte er hinzu und deutete mit einer Kopfbewegung nach der geschlossenen Box, vor der sie standen und aus der man das Hinundhertreten der Füße des Pferdes im Stroh hörte.
Er öffnete die Tür, und Wronski trat in die Box, die nur durch ein kleines Fensterchen schwaches Licht empfing. In der Box stand ein dunkelbraunes Pferd mit einem Kappzaum und stampfte in dem frischen Stroh umher. Nachdem Wronski sich in dem Halbdunkel der Box umgeblickt hatte, umfaßte er noch einmal unwillkürlich mit einem Gesamtblicke die ganze Gestalt seines Lieblingspferdes. Frou-Frou war ein Pferd von Mittelgröße und im Körperbau nicht tadellos. Es war sehr schmal im Knochengerüst; wiewohl der Brustkorb sich stark nach vorn ausbuchtete, war die Brust doch nur schmal. Das Hinterteil hing etwas herab, und an den Vorderbeinen und namentlich an den Hinterbeinen war eine merkliche Krummbeinigkeit vorhanden. Die Muskeln der Hinter- und der Vorderbeine waren nicht besonders massig; aber dafür war das Pferd am Sattelgurt außerordentlich breit, was besonders jetzt bei seiner Trainierung und seinem mageren Bauche auffiel. Die Knochen seiner Beine unterhalb der Knie schienen, von vorn gesehen, nicht dicker als ein Finger zu sein, waren dagegen, von der Seite betrachtet, ungewöhnlich breit. Das ganze Tier war, mit Ausnahme der Rippen, gleichsam von den Seiten her zusammengedrückt und hinten hinabgezogen. Aber es besaß im höchsten Maße einen Vorzug, der alle solche Mängel vergessen ließ; dieser Vorzug war das Blut, jenes Blut, das nach dem englischen Ausdruck ›sich zeigt‹. Aus dem Adernetz, das sich in der feinen, beweglichen, atlasglatten Haut ausbreitete, traten die Muskeln scharf heraus, die so fest wie Knochen zu sein schienen. Der magere Kopf mit den vorstehenden, glänzenden, munteren Augen verbreiterte sich am Maule zu den herausragenden Nüstern, deren Innenhaut mit blutroten Äderchen durchzogen war. In der ganzen Gestalt und namentlich in der Bildung des Kopfes lag ein Ausdruck von Bestimmtheit und Energie und doch zugleich von Zartheit. Es war eines von jenen Tieren, die anscheinend nur deswegen nicht sprechen, weil es ihnen die mechanische Einrichtung ihres Mundes nicht gestattet.
Wronski wenigstens hatte den Eindruck, als verstünde die Stute alles, was er jetzt bei ihrem Anblicke empfand.
Sobald Wronski zu ihr hineintrat, zog sie die Luft tief einatmend in sich hinein, verdrehte ihr ihm zugewandtes vorstehendes Auge dermaßen, daß das Weiße sich von Blut rot färbte, sah von der gegenüberliegenden Seite der Box nach den Eintretenden hin, rüttelte ein wenig mit dem Kappzaum und trat mit federnden Bewegungen von einem Fuße auf den anderen.
»Nun, da sehen Sie, wie aufgeregt sie ist«, sagte der Engländer.
»O meine Liebe, Gute, o!« rief Wronski, indem er zu der Stute hintrat und sie zu besänftigen suchte.
Aber je näher er heranging, um so mehr regte sie sich auf. Nur als er sich ihrem Kopfe näherte, wurde sie auf einmal still, und ihre Muskeln zitterten unter dem feinen, zarten Fell. Wronski streichelte ihr den festen Hals, legte auf dem scharfen Kamm eine nach der anderen Seite hinübergefallene Strähne der Mähne zurecht und näherte sein Gesicht ihren weit geöffneten Nüstern, die so dünn schienen wie die Flügel einer Fledermaus. Sie atmete mit geblähten Nüstern geräuschvoll ein und aus, zuckte zusammen, drückte die spitzen Ohren an den Kopf und streckte die festen, schwarzen Lippen nach Wronski aus, als ob sie ihn am Ärmel fassen wollte. Aber da sie sich des Kappzaumes erinnerte, so schüttelte sie mit diesem und begann wieder mit ihren fein gedrechselten Füßen hin und her zu treten.
»Immer ruhig, meine Liebe, Gute, immer ruhig!« sagte er und streichelte sie noch einmal mit der Hand über das Hinterteil; dann verließ er die Box in dem frohen Bewußtsein, daß das Pferd sich in der besten Verfassung befinde.
Die Erregung des Pferdes war auch auf Wronski übergegangen; er fühlte, wie ihm das Blut zum Herzen strömte und daß er, gerade wie das Pferd, Lust bekam, wilde Bewegungen mit den Gliedern zu machen und um sich zu beißen; es war ihm bänglich und froh zugleich zumute.
»Also ich verlasse mich auf Sie«, sagte er zu dem Engländer. »Seien Sie um halb sieben zur Stelle!«
»All right!« erwiderte der Engländer. »Wohin fahren Sie, Mylord?« fragte er unvermutet, indem er diesmal die Anrede Mylord gebrauchte, deren er sich sonst fast nie bediente.
Verwundert hob Wronski den Kopf in die Höhe und blickte mit jenem