›Ich arbeite, ich will etwas schaffen, und ich habe vergessen, daß alles ein Ende nimmt, daß es einen Tod gibt.‹
Er setzte sich im Dunkeln auf dem Bette aufrecht, beugte sich vor, umfaßte seine Knie und dachte in dieser Haltung so angestrengt nach, daß er dabei den Atem anhielt. Aber je mehr er seine Denkkraft anstrengte, um so deutlicher wurde es ihm, daß es sich unzweifelhaft so verhielt: er hatte tatsächlich im Leben einen kleinen Umstand vergessen und übersehen, den Umstand, daß der Tod komme und alles ein Ende nehme, daß es nicht der Mühe lohne, etwas zu beginnen, und daß es dagegen schlechterdings keine Hilfe gebe. ›Ja, das ist furchtbar; aber es ist so.
Aber noch lebe ich ja. Was muß ich also jetzt tun? Ja, was?‹ fragte er sich verzweifelt. Er zündete ein Licht an, stand leise auf, ging zum Spiegel und betrachtete sein Gesicht und seine Haare. Ja, an den Schläfen waren schon graue Haare zu sehen. Er machte den Mund auf. Die Backzähne begannen bereits schlecht zu werden. Er entblößte seine muskulösen Arme. Ja, Kraft besaß er, viel Kraft. Aber auch Nikolai, der dort mit den kläglichen Resten seiner Lunge atmete, hatte ehemals einen gesunden Körper gehabt. Und auf einmal fiel ihm ein, wie sie als Kinder zusammen schlafen gegangen waren und oft nur darauf gewartet hatten, daß Fjodor Bogdanütsch aus der Tür ging, um sich wechselseitig mit den Kissen zu werfen und zu lachen, unbändig zu lachen, so daß selbst die Furcht vor Fjodor Bogdanütsch diese überströmende, überschäumende Lebensfreude nicht hatte hemmen können. ›Und jetzt diese verkrümmte, hohle Brust ... und ich, der ich nicht weiß, wozu ich da bin, und was aus mir werden wird ...‹
»Kcha! Kcha! Zum Teufel, was treibst du denn da? Warum schläfst du nicht?« rief ihm sein Bruder zu.
»Ich habe weiter nichts Besonderes; ich weiß nicht, ich kann nicht schlafen.«
»Aber ich habe gut geschlafen; ich schwitze jetzt gar nicht mehr. Überzeuge dich selbst; fühle nur mal mein Hemd! Nicht wahr, es ist gar nicht feucht?«
Konstantin befühlte das Hemd, ging dann wieder hinter den Wandschirm zurück und löschte das Licht aus; aber er konnte lange nicht einschlafen. Nun war er erst vor kurzem mit sich einigermaßen über die Frage ins klare gekommen, wie er leben müsse, und schon trat ihm eine neue, unlösbare Frage entgegen: der Tod.
›Er ist schon im Dahinsterben; im Frühjahr wird es mit ihm zu Ende sein; wie soll ich ihm helfen? Was kann ich zu ihm sagen? Was weiß ich über den Tod? Ich hatte ja sogar vergessen, daß es einen Tod gibt.‹
32
Konstantin Ljewin hatte schon längst die Beobachtung gemacht, daß, wenn Leute einem den Verkehr mit ihnen durch übermäßige Nachgiebigkeit und Unterwürfigkeit unbehaglich gestalten, sie ihn einem sehr bald unerträglich machen durch übermäßige Ansprüche und Händelsucht. Er ahnte, daß es auch mit seinem Bruder so kommen werde. Und in der Tat dauerte die Sanftmut seines Bruders Nikolai nicht lange. Gleich am nächsten Morgen zeigte er sich reizbar und suchte geflissentlich Streit mit Konstantin, indem er dessen wundeste Punkte berührte.
Konstantin fühlte sich schuldig, ohne doch an der Sache etwas bessern zu können. Er wußte: wenn sie sich beide nicht verstellen, sondern ihre wahre Herzensempfindung aussprechen wollten, das heißt nur das, was sie wirklich dachten und fühlten, dann würden sie nur einer dem andern in die Augen sehen, und er, Konstantin, würde nur sagen: ›Du wirst sterben, du wirst sterben!‹ und Nikolai würde nur antworten: ›Ich weiß, daß ich sterben werde; aber ich fürchte mich davor, ich fürchte mich, ich fürchte mich.‹ Und weiter würden sie nichts sagen, wenn sie eben nur ihre Herzensempfindung aussprechen wollten. Aber in dieser Weise konnten sie natürlich nicht nebeneinander leben, und daher versuchte Konstantin zu tun, was er sein ganzes Leben lang zu tun versucht und nicht fertiggebracht hatte, was aber nach seiner Beobachtung viele Leute so ausgezeichnet verstanden und was im Leben geradezu eine Notwendigkeit ist: er gab sich Mühe, etwas anderes zu sagen, als was er dachte, und hatte dabei fortwährend die Empfindung, daß er den Eindruck der Unaufrichtigkeit mache, daß sein Bruder ihn durchschaue und darüber in gereizte Stimmung komme.
Am dritten Tage forderte Nikolai seinen Bruder auf, ihm nochmals seinen Plan vorzutragen, und verurteilte diesen Plan nicht nur als ganz verfehlt, sondern warf ihn auch absichtlich in einen Topf mit dem Kommunismus.
»Du hast lediglich einen fremden Gedanken aufgegriffen; aber du hast ihn verhunzt und willst ihn auf einem Gebiete anwenden, wo er gar nicht hinpaßt.«
»Aber ich sage dir ja, daß mein Unternehmen mit dem Sozialismus nichts gemein hat. Die Sozialisten leugnen die Berechtigung des Eigentums, des Kapitals, der Erbfolge; ich aber verwerfe diesen wichtigsten Ansporn menschlicher Tätigkeit nicht (es war ihm selbst widerwärtig, daß er solche Ausdrücke gebrauchte; aber seit er sich so eifrig der Arbeit an seiner Abhandlung widmete, hatte er unwillkürlich angefangen, immer häufiger nichtrussische Worte zu verwenden), ich will nur die Arbeit regeln.«
»Das ist es eben; du hast einen fremden Gedanken aufgegriffen, ihm alles das genommen, was seine eigentliche Kraft ausmacht, und möchtest einem nun einreden, das sei etwas Neues«, versetzte Nikolai und zerrte ärgerlich an seiner Krawatte.
»Aber mein Gedanke hat ja gar nichts gemein ...«
»Beim Kommunismus«, fuhr Nikolai mit ironischem Lächeln fort, und seine Augen blitzten dabei recht boshaft, »beim Kommunismus kann man wenigstens an dem Reize der Klarheit und Zweifellosigkeit seine Freude haben, ich möchte sagen, so ähnlich wie bei der Mathematik. Mag sein, daß das Ganze ein Hirngespinst ist. Aber nehmen wir einmal an, es wäre möglich, mit der ganzen Vergangenheit reinen Tisch zu machen, das Eigentum, die Familie aufzuheben: dann würde sich auch die Arbeit regeln lassen. Aber bei dir ist ja gar nichts ...«
»Warum rührst du meinen Gedanken mit dem Kommunismus zusammen? Ich bin nie Kommunist gewesen.«
»Aber ich bin einer gewesen und finde, daß der Kommunismus zwar verfrüht, aber doch etwas Verständiges ist und eine Zukunft hat; er befindet sich in derselben Lage wie das Christentum in den ersten Jahrhunderten.«
»Ich meine ja auch nur, man muß die Arbeitskraft vom naturwissenschaftlichen Gesichtspunkte aus betrachten, das heißt sie studieren, ihre Eigenschaften bestimmen und ...«
»Ach was, das ist ganz zwecklos. Diese Kraft findet ganz von selbst, nach dem Maße ihrer Entwickelung, eine bestimmte Form, in der sie sich betätigt. Überall hat es Sklaven gegeben, dann später métayers; auch bei uns gibt es die Halbpartarbeit, es gibt die Pacht, es gibt die Tagelöhnerarbeit; wonach suchst du eigentlich noch weiter?«
Bei diesen Worten seines Bruders geriet Konstantin plötzlich in Hitze, weil er in tiefster Seele fürchtete, daß jener recht habe und daß er, Konstantin, wirklich nur so eine Art Mittelding zwischen Kommunismus und festbestimmten Formen schaffen wolle – und daß das kaum möglich sei.
»Ich suche nach Mitteln, die Arbeit sowohl für mich als auch für den Arbeiter gewinnbringend zu machen. Es liegt mir daran, eine Organisation zu schaffen ...«, antwortete er in starker Erregung.
»Es liegt dir gar nicht daran, eine Organisation zu schaffen. Du willst einfach, wie du das dein ganzes Leben lang getan hast, dich als Original hinstellen und zeigen, daß du die Bauern nicht in kunstloser Weise, sondern nach einem bestimmten Systeme ausbeuten kannst.«
»Nun, wenn du das glaubst, dann gib dich nicht weiter mit mir ab!« antwortete Konstantin; er fühlte, wie sein linker Backenmuskel unhemmbar zuckte.
»Du