Neben der Einzeltherapie beginnen nun auch verschiedene Gruppen wie die Depressionsbewältigungstherapie oder die Essstörungsbewältigungstherapie. Die Kurse sind anstrengend und fordern mich sehr. Es geht darum, die Ursachen der Krankheit zu erforschen, Auslöser zu erkennen und Strategien zu finden, die schwierige Situationen bewältigen helfen. Meist kommt heraus, dass wir Kranken nicht mit unseren Gefühlen umgehen können oder sogar gar nichts empfinden können. Um dieser Abstumpfung entgegenzuwirken, suchen wir nach Möglichkeiten, uns wieder zu spüren und auszudrücken. Eine andere Theorie ist die des Kontrollieren-Wollens. Das bedeutet, dass wir als klassische Perfektionistinnen die Kontrolle über unser Leben behalten oder zurückerlangen wollen, indem wir die Kontrolle über unser Gewicht gewinnen. Was neben den ganzen Therapien stattfindet, hilft mir mindestens genau soviel. Nach Silvester genieße ich das Beisammensein mit meinen Mädels in der Klinik sehr. Ich lerne die 17jährige Julia besser kennen und wir unternehmen gemeinsame Spaziergänge ins Dorf. Auch ihre Geschichte ist nicht einfach: aus einer überbehüteten Familie stammend hat sie eine Magersucht entwickelt. Sie ist extrem perfektionistisch und selbstkritisch. Wir verstehen uns sehr gut und ich finde sie total süß, möchte eine Art Vorbild für sie sein. Außerdem entwickelt sich eine großartige Freundschaft mit Daniela, die seit Jahren mit Bulimie zu kämpfen hat. Wenn man sie so kennenlernt, würde man niemals auf die Idee kommen, dass sie ein Problem mit ihrem Körper haben könnte. Sie wirkt wahnsinnig stark und selbstbewusst. Mit ihr kann ich viele ungezwungene Momente erleben. Gerade waren wir noch in der Kneipe gegenüber, im König Ludwig (genannt KL) ein Bier trinken. Das Quatschen und Herumblödeln mit ihr tut so gut, da kann ich mal den ganzen Ernst des Lebens ausblenden. Ich bin so froh, dass wir uns hier am Chiemsee gefunden haben! Im Moment fühl ich mich wirklich glücklich, ich wünschte, diese Zeit fernab der Realität würde niemals enden...
Doch leider muss ich mich auch noch mit den Vorgängen in der echten Welt auseinandersetzen. Der 50. Geburtstag meiner Mutter steht bevor. Dieses Ereignis setzt mich unter Druck. Das ist eine große Familienfeier, die „man“ eben feiern muss - im Kreis der gesamten Familie. Wie es mir dabei geht oder wie schwierig die Situation im Gasthaus mit Unmengen an Essen ist, kann meine liebe Mutter natürlich nicht sehen. Für sie geht es wie immer nur um ihr persönliches Schicksal. Es ist ihr Geburtstag und da habe ich natürlich dabei zu sein. Schlimm genug, dass ich bereits über Weihnachten in der Klinik war und meinen Aufenthalt dort nicht mal verheimlicht habe. Was sollen denn die Leute denken? Na gut. Da muss ich wohl durch. In mehreren Gesprächen mit meiner Therapeutin bereite ich mich auf die Heimfahrt vor und übe mögliche bevorstehende Situationen sogar im Rollenspiel in der Gruppentherapie. Auf Andi freue ich mich ja – zumindest rede ich mir das ein. Am Samstag ganz früh geht es los: ich fahre mit dem Zug bis in die nächstgrößere Stadt und treffe mich dort mit Andi. Wir gehen etwas bummeln, verstehen uns gut und dann beginnt auch schon die Feier. Es verläuft, wie ich schon vorher wusste: viele Oberflächlichkeiten und Essen, aber auch ein sehr gutes Gespräch mit meiner Patentante. Diese war die Einzige in meiner Familie, die Bescheid wusste, wie es mir wirklich geht. Zu ihr habe ich großes Vertrauen und ich weiß, dass ich mich bei ihr nicht verstellen muss. Ein tolles Gefühl! Nach vielen Gesängen und viel zu viel Essen verabschiede ich mich gemeinsam mit Andi, den Rest des Abends wollen wir zu zweit in seiner Wohnung verbringen. Trotz der üblichen Proteste, ich solle doch noch etwas länger bleiben, machen wir uns schließlich auf den Heimweg. Das war wirklich wieder einmal eine Herausforderung, die ich aber gut gemeistert habe! Ein wichtiger Schritt in Punkto Selbstfürsorge.
Am nächsten Tag setze ich mich wieder in den Zug zurück in die Klinik. Während der Fahrt denke ich viel nach und bin erleichtert, dass es wieder zurück in meine geschützte Parallelwelt geht. Ich bin für das „normale“ Leben da draußen noch nicht bereit. Erschöpft komme ich am Abend auf meiner Station bei meinen Mädels an. Ich freue mich so, sie alle wiederzusehen und genieße den Abend mit Daniela & Co. in der Kanzel. Es zählt nur der Augenblick und ich verschwende keinen Gedanken mehr an die Waage, die mich morgen früh erwartet.
Kapitel 5
„This is just a Punk Rock Song!“ - Bad Religion
Die Waage am nächsten Morgen verschont mich: seit dem letzten Mal Wiegen habe ich 300 Gramm abgenommen. Ich bin erleichtert, weil ich nun weiß, dass die Gewichtszunahme nicht ewig unkontrolliert weitergeht. Aber natürlich ist mir klar, dass ich noch nicht am Ziel bin und mein Gewicht weiter steigern muss, wenn ich wieder gesund werden möchte.
Weil ich mich hier in der Klinik so wohl fühle und das Leben außerhalb überhaupt nicht vermisse, kommt es immer öfter zum Streit mit meinem Freund Andi. Er ist verletzt, wenn ich sage, dass ich jetzt endlich wieder glücklich bin. Zum Streiten fehlt mir aber wirklich die Kraft, ich bin hier, weil ich krank bin und Hilfe brauche. Ich fühle mich unverstanden von ihm, er fühlt sich nicht verstanden von mir und so geraten wir immer wieder am Telefon aneinander. Ich beginne zu grübeln und stelle unsere Beziehung immer mehr in Frage. Bin ich überhaupt noch glücklich mit ihm? Er hat mir wirklich eine Zeit lang gutgetan. Aber wenn ich ehrlich bin, ist das schon sehr lange her. Zu Beginn unserer – hmm, wie soll ich es nennen? - Affäre, Liebschaft oder was auch immer, ging es mir auch nicht gut. Ich zweifle und stelle mir vor, wie mein Leben aussehen könnte, wenn ich noch mit meinem vorherigen Partner Vincent zusammen wäre. Mein Vincent, mein Vince-Schatz. Ich habe ihn wirklich von ganzem Herzen geliebt und tue es irgendwie immer noch. Vielleicht war die Beziehung mit Andi ein Fehler. Aber Vincent wird mir das alles nie verzeihen und ich kann es sogar verstehen. Aber wie kam es eigentlich so weit, dass wir uns letztendlich trennten?
Rückblick
Angefangen hatte Vincents und meine gemeinsame Geschichte als ich gerade einmal 16 Jahre alt war. Ich hatte sehr wenig Selbstbewusstsein und stand zu dieser Zeit total im Schatten meiner damaligen besten Freundin Miri. Was ich zu der Zeit nicht wusste: ich wurde auch tatsächlich so genannt: „der Schatten von der Miri“. Als ob ich kein eigenständiger Mensch mit Wünschen, Träumen und Bedürfnissen wäre. Auf jeden Fall hatte besagte Miri seit einigen Monaten einen Freund, was unsere bis dahin innige Freundschaft stark beeinträchtigte. Dennoch profitierte ich auch davon, denn oft nahmen sie mich mit. Ihr Freund Markus war bereits 18 und hatte ein eigenes Auto. So lernte ich im Dezember, als ich 15 war, mein geliebtes Happy Rock kennen. Die berühmt-berüchtigte Diskothek am Stadtrand, in der sich noch viele Dramen meines Lebens abspielen sollten. Jedenfalls war Markus Mitglied in einer Band, der auch ein sehr attraktiver Schlagzeuger mit Dreadlocks angehörte. Nachdem ich mir schon Fotos im Internet angesehen hatte und von diesem mysteriösen interessanten Typen geträumt hatte, nahm uns Markus endlich einmal mit zu einer Bandprobe in Vincents Wohnung. Ich habe ihn nur fasziniert beobachtet und es war klar: dieser Wahnsinns-Mann ist absolut unerreichbar für jemanden wie mich. Ich war doch eine kleine graue Maus, die keinem besonders auffiel. Alle interessierten sich für Miri, auch wenn ich nicht erkennen konnte, was sie so viel besser oder attraktiver als mich machte. Schließlich war ich definitiv schlanker als sie und meiner Meinung nach insgesamt auch hübscher. Außerdem hatte Vincent sowieso bereits eine Freundin. Damit erledigte sich die Spinnerei für mich vorerst und ich vergaß ihn wieder. Mein Leben zeigte sich auch so gerade von der wilden Seite mit diversen Sturmfrei-Partys und unerlaubten Happy Rock Besuchen. Ich hatte angefangen zu leben - ohne Rücksicht auf Verluste. Durch viele Kränkungen in der Vergangenheit war ich bereits richtig abgebrüht. Auf der einen Seite war ich eine gute, brave Schülerin, die noch nie wirklich etwas angestellt hatte, auf der anderen Seite kam die Abenteuerlust und ich wollte endlich etwas erleben. Meine Gefühle hatte ich bereits abgestellt, weil diese sowieso nie erwidert wurden und ich ging dazu über, Party zu machen: weggehen, betrinken, wahllos herumknutschen, alles selbstverständlich ohne Gefühle und Erwartungen. Inzwischen fiel mir das nicht mehr schwer.
Der erste Höhepunkt meiner wilden Zeit spielte sich in einer Woche in den Osterferien ab, als ich 16 Jahre alt war. Zum ersten Mal erlaubten mir meine Eltern, dass ich alleine zu Hause bleiben durfte und nicht mit nach Frankreich zum Skifahren musste. Ich verbrachte diese Woche vor allem mit meiner besten Freundin Miri und ihrem Freund Markus. Wir feierten wilde Partys bei mir zu Hause, nachdem wir noch einen Ex-Knacki (Dani) aus dem Happy Rock aufgegabelt hatten. Diesen fand eigentlich Miri süß, aber da sie vergeben war, hatte ich ihn abbekommen. Was sich jetzt aber