„So hübsch und so traurig“, hörte Siggi eine Stimme hinter sich. Ruckartig drehte er sich um. Vor ihm stand ein Mann um die siebzig, den er sehr gut kannte: Benno Jäger. Der gebürtige Rheinländer lebte seit über dreißig Jahren in Stade, hatte aber den Dialekt nicht abgelegt.
„Wohl wahr“, murmelte Siggi. „Guten Morgen. Heute ist nichts für dich dabei.“
„Wer sollte mir auch schreiben“, lachte Jäger. „Die guten Freunde sind verstorben, die bucklige Verwandtschaft kann mich mal. Was ist nur mit dieser Frau los?“, kam er aufs Thema zurück. Schon lange beobachtete er Frau Leipert. Das fiel ihm leicht, da er im Haus gegenüber wohnte und sowieso nicht viel zu tun hatte.
„Keine Ahnung. Sie wartet täglich auf Post und ist immer wahnsinnig enttäuscht, wenn ich nichts für sie dabei habe. Sie tut mir sehr leid.“
„Welche Art Post bekommt sie denn?“
„Ausschließlich Postkarten“, entfuhr es Siggi, der sich dafür hätte ohrfeigen können, denn das durfte er nicht verraten. Hastig drehte er sich um und wollte wieder in seinen Wagen steigen, aber Jäger ließ das nicht zu.
„Was steht auf den Postkarten? Von wem sind sie?“
„Das weiß ich doch nicht!“
„Jetzt komm schon, Siggi, das glaubt dir keiner! Jeder weiß doch, wie neugierig du bist, was keine Schande ist. Warum auch nicht? Du interessierst dich für deine Kundschaft und nimmst an unser aller Leben teil, was sehr lobenswert ist.“ Es folgte ein Schwall warmer Worte, die Siggi sichtlich genoss.
„Ja, es stimmt, die kurzen Texte fielen mir auf. Auf jeder der insgesamt acht Postkarten stand jeweils nur ein einziger Satz, der für mich keinen Sinn ergab.“
„Wie soll ich das verstehen?“
„Zwei Sätze konnte ich mir merken, die anderen bekomme ich nicht mehr zusammen.“ Siggi sah sich um, so langsam wurde ihm die Situation unangenehm.
„Jetzt lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen! Wie lauten die Sätze?“
„Postgeheimnis!“, sagte Siggi und wollte nur noch weg.
„Wenn die Leute nicht wollen, dass man ihre Nachrichten liest, sollen sie keine Postkarten schreiben“, lachte Jäger, der fürchtete, dass Siggi gleich verschwand, noch bevor er seine Informationen hatte.
„Stimmt auch wieder“, gab Siggi zu, der sich genau dasselbe dachte.
„Und? Raus mit der Sprache! Wie lauten die beiden Sätze? Vielleicht können wir der armen Frau Leipert irgendwie helfen.“
„Wir beide? Das glaubst du doch selbst nicht!“
„Könnte doch sein, oder nicht? Ich möchte es jedenfalls versuchen.“
Siggi wurde weich. Carina Leipert selbst und die ominösen Postkarten ließen ihn schon lange nicht mehr zur Ruhe kommen. Bis jetzt hatte er sich niemandem anvertraut. Hatte er in dem alten Benno Jäger einen Verbündeten gefunden?
„Also gut, aber kein Wort zu niemandem, verstanden? Wenn das rauskommt, bin ich meinen Job endgültig los!“
„Selbstverständlich halte ich den Mund, was hältst du denn von mir?“
Verschwörerisch sah sich Siggi um.
„WIR ALLE RENNEN TROTZ EIS NORDWÄRTS. Gruß Niclas.“
Jäger sah Siggi mit großen Augen an.
„Willst du mich verarschen?“
„Keineswegs. Das ist genau der Satz, der auf einer der Postkarten stand. Ich habe den Sinn auch nicht verstanden, aber die Nachricht muss für Frau Leipert sehr wichtig gewesen sein. Als sie ihn las, hat sie genickt.“
Benno Jäger sah Siggi skeptisch an, denn er fühlte sich immer noch veräppelt.
„Du sprachst von einem weiteren Satz. Wie lautet der?“
„Mach dich auf etwas gefasst, denn der hört sich auch nicht besser an: AFFEN LIEBEN LECKERES ESSEN SEHR, OHNE KARTOFFELN. Gruß Niclas.“
„Was?“
„Genau das stand auf der Karte.“
„Siggi, ich warne dich! Mach dich nicht über mich lustig.“
„Das würde ich nie tun. Ich verstehe diese Nachrichten ja auch nicht. Du etwa?“
„Wie sollte ich?“ Benno Jäger holte einen Zettel und einen Stift aus der Innentasche seines alten Jacketts hervor. „WIR ALLE RENNEN TROTZ EIS NORDWÄRTS. Gruß Niclas“, murmelte er und sah Siggi an, der daraufhin nickte. „AFFEN LIEBEN LECKERES ESSEN SEHR, OHNE KARTOFFELN. Gruß Niclas.“ Auch jetzt nickte Siggi.
„Ist dir noch etwas aufgefallen?“
„Die Sätze waren in Großbuchstaben geschrieben, der Gruß ganz normal. Das ist nicht üblich, deshalb fiel mir das auf.“
„Was ist mit den Motiven der Postkarten?“
„Darauf waren Schiffe abgebildet, Segelschiffe. Abgestempelt wurden sie in Hamburg.“
„Wer wohl dieser Niclas ist?“
„Das habe ich mich auch oft gefragt, habe aber keine Antwort darauf.“
Benno Jäger sah sich die beiden Sätze auf dem Zettel wieder und wieder an.
„Das ist doch nicht normal! Was soll das?“
„Das ist für mich ein Rätsel. Ich würde Frau Leipert gerne darauf ansprechen, aber sie möchte nicht mit mir sprechen.“
„Wir sollten zur Polizei gehen“, sagte Jäger, der spürte, dass hier etwas oberfaul war.
„Womit? Mit zwei Sätzen aus meinem Gedächtnis und einer vagen Vermutung zweier Männer? Die Polizisten lachen uns doch aus.“
„Ja, da magst du recht haben. Trotzdem sollten wir etwas unternehmen.“
Siggi sah auf die Uhr. Das hier dauerte schon viel zu lange, er musste weiterarbeiten.
Jäger verstand.
„Wir machen uns beide Gedanken darüber und treffen uns morgen wieder hier. Vielleicht hat einer von uns eine zündende Idee.“ Benno Jäger ging Richtung Innenstadt zum Altstadtcafé, wo er täglich seinen Kaffee trank und sich mit den netten Damen unterhielt. Manchmal hatte er Glück und es gab eine Veranstaltung, an der er teilnehmen konnte. Ob das heute auch so war?
Auf dem Weg ins Altstadtcafé gingen Jäger die Sätze nicht mehr aus dem Kopf. Was sollte der Mist? Dass da etwas nicht stimmte, stand für ihn außer Frage. Aber was? Er nahm sich vor, am Ball zu bleiben.
3.
Im Altstadtcafé Stade
in der Hökerstraße…
Benno Jäger setzte sich an seinen Stammplatz, den ihm die freundliche Natascha immer frei hielt.
Am Nebentisch saß Hauptkommissar Leo Schwartz aus dem bayerischen Mühldorf am Inn zusammen mit seiner besten Freundin Christine Künstle. Die beiden unterhielten sich angeregt, es hörte sich sogar teilweise nach Streit an.
„Der Termin beim Notar ist erst morgen, meine Liebe. Kannst du mir erklären, warum wir bereits heute angereist sind?“
„Weil ich sichergehen wollte, dass uns diese dämliche Pandemie keinen Strich durch die Rechnung macht. Was