Kurt von Hassel zeigte ihm das Foto der Toten.
„Kommt Ihnen die Frau bekannt vor?“
„Nein.“
Auch seine Frau und die anderen Vereinsmitglieder der Festung Grauerort, die sich inzwischen eingefunden hatten, mussten verneinen. Niemand kannte die Tote, deren Anblick kaum zu ertragen war.
„Vielleicht eine Touristin?“
„In diesem Zustand? Wie soll das gehen? Das kann und will ich mir nicht vorstellen. Die letzte Veranstaltung fand im Oktober letzten Jahres statt, denn danach war in der Festung wegen Corona nicht mehr viel los. Es gab eine Geburtstagsfeier im November, aber das waren fast nur ältere Herrschaften. Wenn da eine junge Frau abgängig gewesen wäre, wüssten wir längst Bescheid.“
Die Befragungen der Gäste der fraglichen Geburtstagsfeier liefen ins Leere. Auch die Aussage des Touristen aus dem Schwarzwald brachte keine neuen Erkenntnisse. Er war pünktlich in Begleitung seiner Frau auf dem Revier erschienen und wiederholte das, was er bereits ausgesagt hatte. Dies wurde mit Vorwürfen der Frau untermalt. Als die beiden weg waren, atmeten alle erleichtert auf.
Die Kriminalkommissare Strömer und von Hassel standen vor einem Rätsel, denn in Stade, Hamburg und Umgebung wurde keine Person vermisst, auf die die Beschreibung auch nur annähernd passen würde.
„Wir haben nur das Zahnschema.“
„Machen wir uns an die Arbeit und klappern die Zahnärzte ab.“
Die Obduktion brachte nicht einen brauchbaren Hinweis für weitere Ermittlungen. Kein einziger Zahnarzt meldete sich wegen des Zahnschemas. Die Spur des Drahtgitters führte ebenfalls ins Leere, denn das gab es in jedem Baumarkt als Massenware. Die Kriminalbeamten hatten lediglich die Beschreibung der Frau: Circa 25 Jahre alt, 1,60 Meter groß, schwarze Haare. Kein Tattoo, keine Narbe, keine alten Verletzungen – einfach nichts, was zur Identifizierung wichtig wäre. Dass die Frau nicht ertrunken war, war jedem zwar klar, wurde aber nun bestätigt. Die Verletzungen, die mit bloßem Auge sehr gut sichtbar waren, konnten nicht eindeutig zugeordnet werden. Es könnte sein, dass die Frau misshandelt wurde. Es war aber auch möglich, dass die Blessuren von Schiffen, Treibholz oder Ähnlichem in der Elbe verursacht worden waren.
Auch nach Wochen kamen die Polizisten keinen Schritt weiter. Wer war die tote Frau, die niemand zu vermissen schien?
2.
Stade, Altländer Viertel, 16. März
Endlich sah sie das Fahrzeug des Briefträgers, auf das sie sehnsüchtig wartete. Seit Stunden stand sie am Fenster. Ob heute endlich die ersehnte Nachricht kam?
Sie zog die blonde Perücke auf und rannte die Treppen des Mehrfamilienhauses im Altländer Viertel in Stade nach unten. Das hier war nicht ihr Zuhause, die Wohnung war ihr zugewiesen geworden. Es war eine Anweisung gewesen, sich hier aufzuhalten und auf weitere Informationen zu warten, die heute, nach vier Monaten, vielleicht endlich ein Ende fanden. Dass sie hier so lange ausharren und sogar Weihnachten und Silvester in dieser fremden Umgebung verbringen musste, war ihr gleichgültig. Da sie verstanden hatte, dass man nur mit ihr zusammenarbeitete und sie das Leben ihrer Lieben schützte, wenn sie sich an die Anweisungen hielt, harrte sie geduldig aus. Ihr eigentliches Zuhause befand sich in einem noblen Vorort Hamburgs. Sie war davon überzeugt, dass ihr Vater von diesen Menschen ebenfalls unter Druck gesetzt wurde, sonst hätte der längst alle Hebel in Bewegung gesetzt, um sie zu retten. Er war ihr Held, zu ihm blickte sie auf. Anfangs hoffte sie noch auf Hilfe, aber als die ausblieb, war ihr klar, dass auch er unter diesen skrupellosen, schlechten Menschen litt. Ob man sich von anderer Seite Sorgen machte, wo sie, ihr Mann und ihr Sohn waren? Könnte es nicht sein, dass man sie vermisste und längst nach ihr suchte? Vermutlich nicht, denn alle Nachbarn kümmerten sich nur um sich selbst. Dass sie und ihr Mann daran nicht ganz unschuldig waren, war ihr bewusst, denn sie vermieden von Anfang an, seit sie vor acht Jahren in die alte Villa des verstorbenen Großvaters gezogen waren, jeglichen Kontakt zu anderen und machten ihr eigenes Ding. Ob alles anders gekommen wäre, wenn sie sich anders verhalten hätten? Nein, vermutlich nicht. Die jetzige Situation wäre auch eingetreten, wenn sie einen größeren Freundeskreis und Kontakt zu den Nachbarn gehabt hätten, das war ihr in den letzten Wochen klargeworden. Wieder und wieder hatte sie sich darüber Gedanken gemacht, Zeit hatte sie schließlich genug. Sie musste sich ausschließlich in dieser Wohnung aufhalten, was unter normalen Umständen eine Zumutung für sie gewesen wäre. Keine Spaziergänge, keine Besuche, nichts war ihr erlaubt. Ein einziger Einkauf pro Woche im angrenzenden Supermarkt war gestattet, aber auch hier durfte sie mit niemandem sprechen. Sie hatte diese schäbige blonde Perücke zu tragen, die man ihr zusammen mit Kleidung, die nicht ihrem sonstigen Stil entsprach, in dieser Wohnung parat gelegt hatte. Ihre einzige Aufgabe war es, abzuwarten. Das machte ihr die meiste Zeit nichts aus, auch wenn ihr oft die Decke auf den Kopf fiel. Das musste sie ignorieren und irgendwie aushalten. Wenn es ganz schlimm wurde, machte sie Yogaübungen oder kochte, denn die Sorgen um ihren Mann Reiner und vor allem um ihren siebenjährigen Sohn Niclas brachten sie fast um den Verstand. Was hatte der Kleine denn getan, dass man ihn so quälte? Einen Fernseher oder ein Radio gab es nicht, weshalb sie immer empfindlicher auf Geräusche achtete, die von draußen zu ihr drangen. Ein einziges Mal war sie versucht gewesen, im Supermarkt heimlich zu einer Tageszeitung zu greifen, aber das blieb nicht unbemerkt. Am nächsten Tag fand sie eine Nachricht unter der Wohnungstür, die sie erschaudern ließ, denn die Drohung war eindeutig. Wenn sie sich das nochmal getraute, würde Niclas darunter leiden, er war als erstes Opfer auserwählt worden. Man drohte, ihr einen seiner Finger zu schicken. Diese Drohung erschreckte sie bis ins Mark. Seitdem war ihr klar, dass sie beobachtet wurde, weshalb sie sich strikt an alle Anweisungen hielt.
Seit sie hier war, schlief sie schlecht, was sie von früher nicht kannte. Aber das alte Leben gab es nicht mehr, das war vorbei.
Frierend stand sie vor der Haustür. Dass es in diesem ungemütlichen März nicht wärmer wurde, war ihr gleichgültig, die Kälte spürte sie nicht. Sie wartete nur auf den Postboten, der hoffentlich eine Nachricht für sie dabei hatte.
Siegfried Schindler, den alle nur Siggi nannten, war nicht überrascht, dass die Frau auch heute wieder vor der Tür stand und auf ihn wartete. Er wusste von der Postadresse, dass sie Carina Leipert hieß und seit etwa vier Monaten hier in diesem Haus wohnte. Als er sie zum ersten Mal sah, spürte er, dass sie hier nicht hergehörte. Dieses Haus war unter den Einheimischen nicht beliebt. Abgesehen davon, dass alles dreckig und heruntergekommen aussah, war die Nummer 12 ein beliebter Drogen-umschlagplatz, der in den späten Abendstunden stark frequentiert wurde. Dann hielten sich hier Gestalten auf, um die man besser einen großen Bogen machte. Alle wussten davon, aber es wurde nicht viel dagegen unternommen. Das Informationsnetz funktionierte, weshalb die Polizei keine Chance hatte, das Treiben zu unterbinden. Hier war die fremde Frau abgestiegen, was Siggi nicht verstand. Obwohl er sich redlich bemühte, ein paar Worte mit ihr zu wechseln, gelang ihm das nicht. Wenn sie überhaupt reagierte, dann nickte sie nur und verschwand – mit oder ohne Post. Ob sie stumm war? Frau Leipert bekam nur Postkarten, ein Brief war nie dabei. Je länger er seine Kundin betreute, desto komischer kam ihm das vor – und desto mehr mochte er die Frau.
„Ich habe nichts für Sie dabei, Frau Leipert“, rief er ihr zu. Er sah, dass sie zitterte, deshalb sollte sie so schnell wie möglich ins Haus zurück. Siggi machte sich schon lange keine Gedanken mehr darüber, warum sie keine Jacke trug. Sie schien sich nur auf die Post zu konzentrieren, auf der ihr ganzer Fokus lag.
Keine Post! Carina konnte nicht fassen, dass auch heute keine Karte dabei war. Was war nur