»Fürst, was ich soeben sagte, ist die ganze Empfindung meines Herzens. Ich danke Ihnen für die Ehre, die Sie mir mit Ihrem Antrag erwiesen haben; aber ich werde niemals die Frau Ihres Sohnes werden.«
»Na, dann ist die Sache ja abgetan, mein Lieber. Habe mich sehr gefreut, dich zu sehen; habe mich sehr gefreut, dich zu sehen. Geh auf dein Zimmer, Prinzessin, geh«, sagte der alte Fürst. »Habe mich sehr gefreut, sehr gefreut, dich zu sehen«, wiederholte er, indem er den Fürsten Wasili umarmte.
»Mein Beruf ist ein anderer«, dachte Prinzessin Marja bei sich, »mein Beruf ist, in anderer Art glücklich zu werden: durch selbstverleugnende Liebe. Um jeden Preis will ich es zu erreichen suchen, daß die arme Amélie glücklich wird. Sie liebt ihn so leidenschaftlich. Sie bereut so tief. Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht, um ihre Heirat mit ihm zustande zu bringen. Wenn er nicht reich ist, so will ich ihr die nötigen Mittel geben; ich will den Vater bitten, ich will Andrei bitten. Ich werde so glücklich sein, wenn sie seine Frau wird! Sie ist so unglücklich, so fremd, so einsam, so hilflos! Und dann, o Gott! wie leidenschaftlich muß sie ihn lieben, wenn sie sich so weit vergessen konnte! Vielleicht hätte ich dasselbe getan!« dachte Prinzessin Marja.
VI
Die Familie Rostow hatte lange keine Nachrichten von Nikolai gehabt; erst in der Mitte des Winters erhielt der Graf einen Brief, auf dessen Adresse er die Handschrift seines Sohnes erkannte. Erschrocken und eilig und bemüht, von niemand bemerkt zu werden, lief der Graf auf den Zehen mit dem Brief in sein Arbeitszimmer, machte die Tür zu und begann zu lesen. Anna Michailowna, die gehört hatte, daß der Graf einen Brief bekommen habe (wie sie denn alles erfuhr, was im Haus geschah), kam mit leisen Schritten zum Grafen ins Zimmer und fand ihn mit dem Brief in der Hand schluchzend und zugleich lachend.
Anna Michailowna war, obwohl ihre Verhältnisse sich gebessert hatten, bei Rostows wohnen geblieben.
»Nun, mein lieber Freund?« fragte sie in wehmütigem Ton, zu jeder Art von Anteilnahme bereit.
Der Graf schluchzte noch heftiger.
»Unser lieber Nikolai ... ein Brief ... er ist ver- ... verwundet gewesen ... meine Beste ... verwundet ... Was wird die Gräfin ... Er ist Offizier geworden ... Gott sei Dank ... Wie sollen wir das nur der Gräfin beibringen?«
Anna Michailowna setzte sich zu ihm, wischte ihm mit ihrem Taschentuch die Tränen aus den Augen, wischte auch die Tropfen weg, die auf den Brief gefallen waren, trocknete ihre eigenen Tränen, beruhigte den Grafen und sprach dann ihre Ansicht dahin aus, sie wolle beim Mittagessen und beim Tee die Gräfin vorbereiten und nach dem Tee mit Gottes gnädigem Beistand ihr alles mitteilen.
Während des Mittagessens sprach Anna Michailowna von Kriegsnachrichten und von Nikolai; sie fragte zweimal, wann der letzte Brief von ihm angekommen wäre, obwohl sie es selbst wußte, und bemerkte, es sei doch sehr leicht möglich, daß heute noch ein Brief von ihm einträfe. Jedesmal jedoch, wenn die Gräfin bei diesen Andeutungen anfing unruhig zu werden und ängstlich bald den Grafen, bald Anna Michailowna anzusehen, lenkte diese das Gespräch ganz unmerklich auf gleichgültige Gegenstände. Natascha, die von der ganzen Familie am meisten die Gabe besaß, die verschiedenen Nuancen im Klang der Stimme, im Blick und im Gesichtsausdruck herauszufühlen, hatte gleich beim Beginn des Mittagessens die Ohren gespitzt und gemerkt, daß zwischen ihrem Vater und Anna Michailowna ein geheimes Einverständnis bestand, und daß es sich dabei um ihren Bruder handelte, und daß Anna Michailowna die Mutter auf etwas vorbereitete. Aber da Natascha wußte, wie sehr es ihrer Mutter immer ans Herz ging, wenn das Gespräch auf Nachrichten von Nikolai kam, so erlaubte sie sich trotz all ihrer Dreistigkeit nicht, bei Tisch eine Frage zu stellen; sie aß vor Unruhe nichts und rückte auf ihrem Stuhl hin und her, ohne auf die tadelnden Bemerkungen ihrer Gouvernante zu hören. Nach dem Mittagessen stürzte sie Hals über Kopf hinter Anna Michailowna her, holte sie im Sofazimmer ein und warf sich ihr im vollen Lauf um den Hals.
»Tantchen, liebes, bestes Tantchen, sagen Sie mir doch, was es gibt!«
»Nichts, liebes Kind.«
»Nein, mein Herzenstantchen, Liebste, Trauteste, Goldene, ich lasse Sie nicht los; ich weiß, daß Sie etwas wissen.«
Anna Michailowna wiegte den Kopf hin und her.
»Sieh mal an, was du für ein Schlaufuchs bist, mein Kind«, sagte sie.
»Wohl ein Brief von Nikolai? Gewiß!« rief Natascha, da sie auf Anna Michailownas Gesicht die bejahende Antwort las.
»Aber nimm dich um Gottes willen recht in acht: du weißt doch, was für ein Schreck so etwas deiner Mama einjagen kann.«
»Ich werde mich schon in acht nehmen; aber erzählen Sie! Sie wollen es nicht erzählen? Dann gehe ich gleich hin und sage es Mama.«
Anna Michailowna setzte Natascha mit kurzen Worten von dem Inhalt des Briefes in Kenntnis, machte ihr aber zur Bedingung, es niemandem zu sagen.
»Mein heiliges Ehrenwort!« sagte Natascha, sich bekreuzend. »Ich werde es niemandem sagen!« Und sofort lief sie zu Sonja.
»Nikolai ... verwundet ... ein Brief ...«, sagte sie triumphierend und glückselig.
»Nikolai!« Weiter brachte Sonja nichts heraus und wurde einen Augenblick ganz blaß.
Erst jetzt, als Natascha sah, welchen Eindruck die Nachricht von der Verwundung ihres Bruders auf Sonja machte, kam ihr der Gedanke an die traurige Seite dieser Nachricht.
Sie stürzte auf Sonja zu, umarmte sie und brach in Tränen aus.
»Die Verwundung war nicht bedeutend; aber er ist zum Offizier befördert worden. Er ist jetzt gesund; er schreibt selbst«, sagte sie weinend.
»Da sieht man's wieder, was ihr Weibsleute alle für eine weinerliche Bande seid«, sagte der kleine Petja, indem er mit großen, energischen Schritten im Zimmer auf und ab ging. »Ich dagegen freue mich sehr, ich freue mich wirklich sehr, daß mein Bruder sich so ausgezeichnet hat. Aber ihr seid alle Memmen! Ihr versteht nichts davon.«
Natascha lächelte durch ihre Tränen hindurch.
»Du hast den Brief nicht selbst gelesen?« fragte Sonja sie.
»Nein, selbst gelesen habe ich ihn nicht; aber Anna Michailowna hat mir gesagt, es wäre alle Gefahr vorbei, und er wäre schon Offizier.«
»Gott sei Lob und Dank!« sagte Sonja, sich bekreuzend. »Aber vielleicht hat sie es dir nur vorgeredet. Komm, wir wollen zu Mama gehen.«
Petja war ein paarmal schweigend im Zimmer auf und ab gegangen; nun sagte er:
»Wenn ich an Nikolais Stelle gewesen wäre, dann hätte ich noch mehr von diesen Franzosen getötet. Was sind das für Halunken! Ich hätte so viele niedergehauen, daß es ein ganzer Haufe geworden wäre.«
»Sei still, Petja, du bist ein Dummrian!« sagte Natascha.
»Ich bin kein Dummrian; aber Mädchen, die über jede Kleinigkeit heulen, das sind dumme Trinen«, erwiderte Petja.
»Kannst du dich auf ihn besinnen?« fragte Natascha nach einem Stillschweigen, das wohl eine Minute lang gedauert haben mochte.
Sonja lächelte.
»Ob ich mich auf Nikolai besinnen kann?«
»Nein, Sonja, ich meine, ob du dich auf ihn so besinnst, daß du dich ganz genau besinnst, daß du dich auf alles besinnst«, sagte Natascha mit eifrigen Handbewegungen, offenbar bemüht, ihren Worten den vollsten, umfassendsten Sinn zu verleihen. »Ich, ich besinne mich auf Nikolai; auf den besinne ich mich«, sagte sie. »Aber auf Boris besinne ich mich nicht; das kann man gar nicht ›sich besinnen‹ nennen.«
»Wie? Du besinnst dich nicht auf Boris?«