Erotische Bibliothek
Band 6
Franz Blei
Liebesgeschichten des Orients
Erstmals erschienen 1923
© Lunata Berlin 2019
Inhalt
Die Kurtisane und der Kaufmann
Die Dame mit dem weißen Fächer
Die vornehme Dame und die vier Liebhaber
Der Blumenunterricht in der Yoschiwara
Vorwort
Die Literaturen des Orients haben drei verschiedene Quellgebiete, aus denen sie ihre Inspiration holen oder holten, besser gesagt, denn die Quellen sind seit langem verschüttet. Erschöpft ist die althebräische Quelle, nachdem sie die Literaturen Vorderasiens gespeist hat bis an die Südostspitze Arabiens und bis an das afghanische Bergland. Erschöpft ist die Quelle des Sanskrit. Und der dritte originäre Kreis, China, dem der ganze asiatische Osten seine literarische Eingebung dankt, ist steril geworden. Frühesten Einfluss auf europäische Inspiration gewann das örtlich nächste: die althebräische Literatur in ihren erzählenden weltlichen Gebilden, z. B. der wollüstigen Erzählung Ruth oder dem Hirtenlied von der Sulamith. Die erzählende griechische Prosadichtung wird diese hebräischen Gebilde gekannt haben. Zeitlich später begann das örtlich fernere Indien auf Europäisches zu wirken: ein großer Teil dessen, was wir seit den Gesta Romanorum an Märchen und Erzählungen, zumal erotischen Charakters, in den frühen europäischen Literaturen besitzen, z. B. der altitalienischen, der altfranzösischen Novellistik, stammt aus indischem Urgut. Ohne jede Wirkung auf Europa blieb allein China. Wenigstens ohne direkte Wirkung, denn über Indien und in indischem Gewande dürfte manches zu uns gekommen sein.
Zwei elementare Motive, in ihrer Menschlichkeit allgültig, bringen fremdes nahe und machen es zu eignem: die Deutung der Welt ist das eine, die Liebe ist das andere Motiv, Erkenntnis der Welt, Erkenntnis des Weibes. Das eine tendiert zu Systemen, in denen alle Mannigfaltigkeit auf das Eine gebracht wird, das andere bricht das Eine in alle Mannigfaltigkeiten seiner unerschöpflichen Erscheinungsformen. Dort die eine Geschichte der Götter, hier die abertausend Geschichten der Menschen. Dort wird das in der Lehre Empfangene und Weitergegebene Glaube und Kult, in der Liebe wird altes immer aufs Neue als neu erfahren mit Lust und Schmerz, und wird immer aufs Neue davon berichtet. Erst in der indischen Dekadence treten gewisse Regelbücher und Traktate der Liebe mit so etwas wie kultischem Anspruch auf, wie in Europa auch erst das Christentum den Versuch machte, die Liebe zu kanalisieren, da es sie, wie Paulus und nach ihm Marcion gern gewollt hätten, nicht abschaffen konnte. Wie dieses längst ungläubig gewordene Europa immer noch daran festhält, die Liebe, diese individuellste Freiheit, zu reglementieren, wo doch die Ansprüche der modernen Gesellschaft nur zwei Fälle kennen, in denen das Gesetz sein Recht hat: im Falle der Notzucht, die Beraubung ist, und im Falle des Ehebruches, der eine Vertragsverletzung ist – diese außerordentliche Vorliebe der Moralisten und Gesetzgeber für den sechsten Sinn, diese sinnlos gewordene Erbschaft einer Moral, welcher die Religion, ihre Quelle fehlt, ist eines der vielen Zeichen der Schwächung dieses sechsten Sinnes. Ein gläubiger Christ kann und muss daran festhalten, dass die Unkeuschheit eine Sünde und von Gott verboten ist. Behauptet dies aber ein Ungläubiger, so redet er Unsinn. Und versucht er es »wissenschaftlich« zu begründen, indem er ausführt, dass die Unkeuschheit dem sie begehenden Menschen schade und Staat und Gesellschaft dazu da seien, ihn vor solchem Schaden zu bewahren, ja ihn auch noch dafür zu strafen, dass er sich schade, so verirrt sich solcher Beweis völlig ins Absurde, denn das Leben schadet dem Leben immer: man lebt unter Verminderung seines Erhaltungswertes von dem Moment ab, da man geboren wurde.
Aus den mannigfaltigen Stücken, welche der Übersetzer aus den orientalischen Literaturen unter dem künstlerisch gerechtfertigten Gesichtspunkte des Liebesmotives ausgewählt hat, wird dem Leser zunächst dieses auffallen müssen: die Naivität, mit welcher die orientalischen Völker ohne Ausnahme geschlechtliche Dinge ansehen, nicht anders, als es die alten europäischen Völker taten, wovon sich Reste bis in die Renaissance noch erhielten, wo ein Papst den Aretino wegen seines Talentes zum Kardinal machen wollte – trotz oder eben wegen des Talentes der Sonnetti lussoriosi. Dem Orient ist der Begriff wie das Wort des Schlüpfrigen ganz fremd. Der Orientale lacht wohl über den in der Liebe Geprellten, den Hahnrei, aber alles, was mit der Leidenschaft