„Ich bitte dich“, antwortete Coco. „Drei Semester Kunstgeschichte oder so was; vielleicht ein bisschen in der Schweiz oder in Frankreich. Da gibt´s Adelige.“
„In der Schweiz nicht!“
Darüber wurde nun leidenschaftlich und ohne besondere Sachkenntnis gestritten; der Vater schüttelte schwach lächelnd den Kopf.
Frau Mohr brachte schweren Schrittes die Fruchtpampe; alle Schwestern leiteten ihre Teller zu Leander in der Küche um, nur Coco bot ihren dem Vater an, der wieder schwach lächelte und murmelte: „Jedes Mal dieses beleidigte Hinausrauschen… geht ihr jetzt wirklich Eis essen?“
„Komm doch mit! Leander muss bestimmt Hausaufgaben machen – und Claudia schmollt in ihrem Boudoir…“
„Danke, aber eure Mädelsgespräche möchte ich nicht stören. Viel Spaß beim Eisessen!“
Sie hatten sich auf der Terrasse des San Carlo einen der letzten freien Tische geschnappt und üppige Eisbecher bestellt, je nach Geschmack eher Schoko-Nuss oder eher Früchte (nicht als Pampe!), mit oder ohne Sahne, Schokosauce oder Kokosraspeln, alle aber mit Nougatwaffeln, und löffelten nun zufrieden.
„Haben wir uns verdient“, fand Pat. „Das Essen wird von Mal zu Mal schrecklicher.“
„Meinst du Claudia oder den Fraß?“, erkundigte sich Coco angelegentlich und biss knurpsend in ihre Waffel.
„Eher den Fraß. Die Mohr kocht scheußlich, ich esse normalerweise schon gar nicht mehr in Waldstetten, schließlich gibt es überall Pizza oder Leberkässemmeln.“
„In deinem Alter kann man das auch noch essen“, seufzte Hel mit einem neidvollen Blick auf die schlanke Figur der Jüngsten. „Ich glaube, ich lege jedes Jahr zwei Kilo zu.“
„Dann lass halt die Sahne weg“, mahnte Jack mit einem beziehungsreichen Blick auf den hochgetürmten Eisbecher ihrer Schwester.
„Die ist doch das Beste!“
„Dann beklag dich nicht“, meinte Coco, genüsslich ihren Löffel ableckend. „Schaut mal, da kommt ein hübsches Kerlchen vorbei!“
Alles schaute.
Tatsächlich: hochgewachsen, schlank, gut geschnittenes Gesicht, glänzendes Haar, keine sichtbaren Tattoos, weißes Hemd und unzerrissene Jeans. Vielleicht Ende zwanzig.
Der junge Mann kam näher, warf einen Blick auf den Tisch der vier Schwestern, stutzte und machte dann eiligst, dass er weiterkam. Coco wandte sich ihren Schwestern zu und stellte erstaunt fest, dass Hel und Jack ebenfalls etwas blass geworden waren.
„Was habt ihr denn? Hat er euch beiden so gut gefallen?“
Hel und Jack sahen sich kurz an, misstrauisch, wie es Coco schien, und wechselten dann zeitgleich das Thema:
„Da soll jetzt ein toller neuer Film laufen, über - “
„Habt ihr eine Ahnung, warum Claudia heute so ganz besonders angriffslustig war? Pat, entschuldige, sie ist deine Mutter, aber -“
Pat winkte ab. „Geschenkt. Mich nervt sie ja auch, mit ihrer Art, allen einen Lebensstil überstülpen zu wollen, den sie im Fernsehen gesehen hat.“
Coco lachte. „Kennt ihr „Royals“? Seid froh, dass sie sich nicht das zum Vorbild genommen hat!“
Pat freute sich: „Wäre doch toll! Wir müssten bei diesen grässlichen Essen Nylonstrümpfe und diese affigen Hütchen tragen, sonst ist Mama not amused.“
„Fascinators heißen die“, ging Hel eifrig darauf ein. „Bescheuerte Dinger. Als nächstes machen wir beim Reinkommen noch einen Hofknicks?“
„Ich verstehe gar nicht, wie man sich auf so veraltetes Zeug versteifen kann“, überlegte Coco. „Claudia ist – wie alt, Pat? Sechsundvierzig? Warum verhält sie sich, als sei sie Jahrgang 1900?“
„Vielleicht glaubt sie, in unseren Kreisen“ – Jack sprach dies mit dem passend gespitzten Mündchen aus – „ist sowas wichtig?“
„Dann kann sie aber nicht gerade viel vom Leben ganz normaler Familien aus der – naja – oberen Mittelschicht verstehen“, wandte Coco ein. „Bis zum Königshaus ist da doch noch ein weiter Weg, glücklicherweise. Lieber im Netz Klatsch über Prinzessinnen lesen als selbst eine sein.“
„Über ihre Familie erzählt sie eigentlich nie etwas“, gab Pat zu bedenken. „Nur, wie brav und angemessen sie sich immer aufgeführt hat. Na, wer´s glaubt…“
„Was hat sie eigentlich für einen Beruf? Also, gehabt?“, wollte Jack wissen. „Sie kann ja wohl nicht reiche Ehefrau gelernt haben?“
„Das sagt sie ja auch nicht! Wenigstens nicht so genau. Ich denke, irgendwas im Büro. Sachbearbeitung vielleicht. Papa hat mal erzählt, sie haben sich bei einem Firmenevent kennengelernt. Vielleicht war es was vom Immobilienverband Leisenberg?“
„Immobilienverband Oberbayern, wenn schon“, korrigierte Coco. „Eine eigene Leisenberger Gruppe gibt´s nicht, das wüsste ich. Na, damals vielleicht, 1998. Glaub ich aber auch nicht.“
„Dann war sie vielleicht bei Crommer oder so“, überlegte Pat. „Ich hab mir immer vorgestellt, wie die Bonzen an den Tischen sitzen, vorne referiert einer etwas über Umsatzrekorde, und Mama schleicht herum und verteilt Handouts oder kleine Mineralwasserfläschchen.“
Coco gluckste. „Das Bild hatte ich jetzt auch gerade vor Augen. Bloß kann man so etwas doch wohl laut sagen? Immobilien sind doch nicht peinlich? Himmel, ich mach doch auch nichts anders!“
Pat warf ihrer großen Schwester einen schlauen Blick zu. „Ja, aber du würdest nicht Zeug verteilen, sondern am Tisch sitzen. Oder den Vortrag halten.“
„Mag sein, aber Claudia hätte sich doch auch nach oben arbeiten können?“, schlug Jack vor.
Pat kicherte. „Ich bin ziemlich sicher, dass sie kein Abitur hat. Also konnte sie nicht studieren – und ganz ehrlich, ohne Uniabschluss kommst du doch nicht sehr weit. Coco, du bist Betriebswirtin, oder?“
„Ja, klar. Genauso wie Jack Mediendesign studiert hat und Hel Jura. Auch wenn sie nicht in ihrem Beruf arbeitet.“
„Ralf will das eben nicht“, murrte Hel. „Er findet Jura unweiblich.“
„So ein Idiot“, entfuhr es Pat. „Was sollst du denn dann den ganzen Tag machen?“
„Mich hübsch machen für ihn, vermutlich“, antwortete Hel mit einer Grimasse. „Ein bisschen öde ist das schon. Rumsitzen und warten, dass der hohe Herr nach Hause kommt…“
„Und das lässt du dir gefallen?“ Pat war entrüstet und musste gleich einen Riesenbissen Eis nehmen.
Coco war der gleichen Meinung. „In welcher Zeit lebt dein Ralf eigentlich? Das ist doch voll die Fünfziger!“
Pat wollte offensichtlich auch noch etwas sagen, jedenfalls lutschte sie sehr hektisch diesen Eisklumpen klein. Endlich konnte sie wieder sprechen: „Warum machst du das denn mit?“
Hel zuckte die Achseln. „Naja… Teilzeit-Anwältin ist schwierig, für Vollzeit bin ich auch ein bisschen zu - naja – zu faul. Eigentlich ist es so ganz gemütlich… ausschlafen, rumtrödeln, Pflegemaske, Fernsehen, bisschen Sport, die Wohnung dekorieren…“ Sie grinste etwas unsicher.
„Dann beklag dich auch nicht“, murmelte Jack, zog einen Strohhalm aus dem Becher in der Mitte und begann, die Reste in ihrer Eisschale misstönend aufzusaugen.
„Jack!“
„Nostalgieanfall. Ich war gerne ein Kind.“
„Wir auch, aber die Zeiten sind vorbei. Jack, du musst mit dem kindischen Getue aufhören!“
„Ich? Und wer hat mit der Parole Hippielumpen heute angefangen?“
„Doch