Der falsche Tote. Carlo Fehn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carlo Fehn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844293241
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Generalprobe anscheinend vorgenommen, alles und jeden in Frage zu stellen und zu kritisieren. Nahezu nach jeder neuen Szene, in der er nicht selbst mitspielte, unterbrach er teilweise mit heftigen Gesten und Worten, um wild fuchtelnd auf die Schauspielerinnen und Schauspieler einzureden und ihnen klarzumachen, was er von ihnen sehen wollte. Es machte nicht wirklich viel Spaß und Pytlik hätte sich gewünscht, lieber draußen beim Hofer Toni am Tresen zu sitzen und gemütlich ein Bierchen zu trinken. Dann war es soweit.

      Pytlik stand nun einsatzbereit hinter der Tür, die er im nächsten Moment beim von Constantin Becker gegebenen Stichwort eintreten würde. Die Schweißperlen standen ihm auf seinem kahlen Schädel, nicht nur, weil er schon einige Zeit im Trenchcoat auf dem relativ begrenzten Raum wartete, sondern ihm auch die ganzen Reibereien und die gereizte Stimmung während des bisherigen Abends anzumerken waren. Es war aber sicherlich auch die Aufregung, alles richtig machen zu wollen und zu müssen. Das Stichwort kam, Pytlik nahm alle Konzentration zusammen und trat gegen das Holzkonstrukt, das planmäßig auf die Bühne fiel, so dass er seinen Auftritt beginnen konnte. Alles klappte bestens und wie geschmiert, das Wortgefecht zwischen Constantin Becker und dem Hauptkommissar lief wie geplant ab und je länger der Dialog dauerte, desto besser und sicherer fühlte sich Pytlik. Dann sollte es zur entscheidenden Szene kommen. Constantin Becker drehte sich um 180 Grad über die rechte Schulter, machte dann einige Schritte, brüllte wutentbrannt den dazugehörigen Text und simulierte mit einem »Peng, Peng!« den Schuss auf den in der ersten Reihe sitzenden Werner Schuster. Noch während Becker in Aktion war, kniff Pytlik innerlich bereits die Augen zusammen und machte sich auf den nächsten Ausbruch des Regisseurs gefasst.

      »Sag mal, bist du denn völlig hirnvernagelt oder kapierst du es einfach nicht, Constantin?«, brüllte Werner Schuster, der wie ein HB-Männchen von seinem Stuhl aufgesprungen war und mit beiden Händen auf den Bühnenboden trommelte.

      »Wie oft haben wir das jetzt schon geübt und wie oft hast du es jetzt mittlerweile schon falsch gemacht? Ist das denn tatsächlich so schwer zu kapieren oder liegt das irgendwie bei euch in der Familie, dass da oben etwas fehlt bei euch? Erst fünf Schritte zurück, dann umdrehen, dann Text, dann Schuss! Verdammte Scheiße noch mal! Es geht einfach darum, dass das einen besseren Überraschungseffekt für die Zuschauer hat, wenn wir es so machen. Kapier das doch endlich mal!«

      Alle anderen Schauspieler, die schon fertig waren, saßen als Zuschauer unten in den Rängen. Keiner wagte, etwas zu sagen, der Respekt vor Werner Schuster war förmlich spürbar und keiner hätte sich getraut, ihm auch nur ansatzweise zu widersprechen oder sich einzumischen. Aber dann legte Constantin Becker los.

      »Was hast du da gerade gesagt? Was war das mit meiner Familie? Du kannst dich glücklich schätzen, so eine Frau zu haben wie meine Schwester! So eine findest du auf der Welt kein zweites Mal. Und ich frage mich ehrlich gesagt, was die an einem solchen Arschloch wie dir eigentlich findet!«

      Pytlik überlegte sich gut, beschwichtigend einzugreifen oder es einfach laufen zu lassen. Er entschied sich für die zweite Variante, lockerte seine steife Haltung aber etwas und ging ein paar Schritte nach rechts, um sich auf einen Stuhl zu setzen. Jetzt war wieder Werner Schuster dran.

      »Und überhaupt: Was glaubst du eigentlich, wie das wirkt, wenn du mit der Waffe hier irgendwo nach rechts oder links oben zielst und mich hier unten treffen willst? Kannst du nicht einfach auch auf mich zielen, wenn ich schon hier unten sitze?«

      »Das ist eben nicht so einfach wie du denkst, du alter Besserwisser, weil mich die ganzen Scheinwerfer so blenden, dass ich kaum sehen kann, wo du genau sitzt. Da muss ich das nach Augenmaß machen. Aber das ist wieder typisch Herr Schuster, ja! Entweder es geht so wie der feine Herr es will oder Andere sind daran schuld. So wie es eben auch in deiner Firma läuft! Schau doch mal die ganzen verschüchterten Leute hier an. Was glaubst du, warum hier keiner die Klappe aufmacht, obwohl alle gut und gerne wohl mal Lust dazu hätten? Weil die wissen, dass sie am Montag wieder bei dir arbeiten müssen und dass man da lieber nicht aufmuckt, das zeigen ja genügend Beispiele aus der Vergangenheit.«

      »Was willst du damit sagen?«

      Ruhe.

      »Was willst du damit sagen?«, fragte Schuster erneut.

      »Das weißt du ganz genau«, antwortete Constantin Becker trocken.

      Schuster hob die Hand und schüttelte den Zeigefinger drohend in Richtung seines Schwagers.

      »Ich habe kein Problem damit, die Rolle noch umzubesetzen oder das ganze Stück einfach hinzuschmeißen, merk dir das! Pass schön auf, dass du dich am Sonntag nicht hier unten im Publikum als Zuschauer wiederfindest. Hast du mich verstanden?«

      Ein Funke hätte die Stimmung jetzt explodieren lassen können. Pytlik fühlte eine Mischung aus Peinlichkeit und Ratlosigkeit, andererseits hatte er nichts falsch gemacht und dass Schuster auch ihn so angehen würde, das konnte er sich nicht vorstellen. Constantin Becker nahm noch einmal die Waffe hoch, zielte konzentriert auf Werner Schuster und sagte: »Und du pass auf, dass dich am Sonntag nicht tatsächlich eine echte Kugel trifft, mein lieber Schwager!«

      Dann drehte sich Becker schnell herum und verließ eiligen Schrittes die Bühne. Der eine oder andere der Schauspieler hatte die Hand vor den Mund genommen, um Entsetzen zu demonstrieren. Pytlik beobachtete genau die Situation. Tatsächlich schien es so zu sein, dass da ein Haufen verschüchterter Menschen saß, der diesem Werner Schuster aufgrund irgendwelcher emotionaler oder sonstiger Abhängigkeiten völlig untergeben war. Und was machte Schuster? So als hätte ihn die Drohung seines Schwagers völlig kalt gelassen, wandte er sich süffisant lächelnd an den Hauptkommissar

      »Was sagen Sie dazu, Herr Hauptkommissar? Liege ich denn völlig falsch?«

      Pytlik überlegte sich gut, was er jetzt sagte. Dann stand er von seinem Stuhl auf und ging in die Position, die Constantin Becker in besagter Szene eigentlich innehatte.

      »Was machen Sie denn jetzt?«, wollte Werner Schuster vom Hauptkommissar wissen.

      In diesem Moment machte Pytlik bereits fünf Schritte rückwärts zur Bühne hin, drehte sich dann über seine rechte Schulter 180 Grad, deutete mit seinen geballten Händen eine Waffe an und zielte auf den Stuhl, auf dem Werner Schuster sitzen würde.

      »Sehen Sie, Herr Hauptkommissar! Bravo! Genau so ist es richtig und genau so sollte es Constantin einfach auch nur machen. Das ist doch nicht so schwer, oder?«

      Pytlik antwortete nicht, sondern legte einen Zeigefinger nachdenklich auf seinen Mund.

      »Was ist?«, fragte Schuster neugierig.

      »Nein, das ist tatsächlich nicht so schwierig«, antwortete Pytlik. »Allerdings hat Ihr Schwager in dem Moment auch schon einiges mehr an Schauspielerei hinter sich und vielleicht vergisst er das dann einfach. Außerdem hat er Recht, wenn er sagt, dass er Sie da unten nicht wirklich gut sehen kann. Vielleicht könnte man an dem Stuhl, auf dem Sie sitzen, eine Markierung anbringen, die man von hier oben gut sehen kann. Dann wäre dieses Problem vielleicht auch noch gelöst.«

      Kurze Pause.

      »Und ansonsten«, schob Pytlik fast belanglos hinterher, »muss ich sagen, die Art und Weise, wie Sie sich speziell heute hier aufgeführt haben, widerstrebt mir total. Ich habe mich gerne dazu bereit erklärt mitzuspielen. Ist auch für mich mal eine neue Erfahrung. Es hat mir bisher ganz gut Spaß gemacht und ich habe auch durchaus etwas dabei gelernt. Ich weiß nicht, ob das dazugehört oder ob Sie ein Klischee bedienen wollen, von dem Sie vielleicht selbst nicht wissen, ob es stimmt. Aber wenn Sie der Meinung sind, dass eine misslungene Generalprobe einfach dazugehört, dann haben Sie das heute ganz gut hinbekommen. Ich sehe hinter dem Ganzen aber durchaus noch etwas Anderes und das gefällt mir ganz und gar nicht.«

      »Ach so! Was sehen Sie denn, Herr Hauptkommissar?«, bohrte Werner Schuster in einem fast etwas beleidigten Ton nach.

      »Ihr Schwager hat mit seiner Beschreibung wohl nicht ganz unrecht, deswegen glaube ich auch nicht, dass Sie die Aufführung am Sonntag platzen lassen würden. Das würde nicht Ihrem Ego entsprechen. Die Leute würden dann ja fragen, warum und weshalb und dann hieße es am Ende vielleicht, der Werner Schuster hat es einfach nicht auf die Reihe