Er musste verschwinden.
Unauffällig holte Avriel seinen UniCom aus der Hosentasche und linste auf die Uhr. Sperrstunde. Eigentlich durfte er sich nicht mehr auf den Straßen aufhalten. Normalerweise wurde das Gesetz eher lax durchgesetzt, aber nicht heute.
Eilig drückte er sich an den Wegen entlang, immer im Schatten, und hoffte, dass ihm keine Pärchen oder Spaziergänger mit Hund begegnen würden. Schnell fand er den kleinen, etwas verwahrlosten Springbrunnen. Angeblich moderne Kunst, für Avriel sah das Ding aus, als hätte jemand etwas Unförmiges gebaut und dann mit Absicht verrosten lassen.
Er lehnte sein Rad dagegen, schöpfte Wasser und wusch sich ausgiebig Gesicht und Hände. So lange, bis seine Haut rot war und sein Gesicht spannte. Er zog sich sein T-Shirt über den Kopf und wendete es. Auf den ersten Blick war nicht zu erkennen, dass er es verkehrt herum trug, sodass niemand sehen würde, wie schmutzig es war. Außerdem hatte das Hemd, das er darüber getragen hatte, sowieso das Meiste abbekommen. Avriel ließ es in einen Abfalleimer fallen und schob mit einem Ast Müll darüber.
Das reichte zwar vermutlich nicht, um seine Spur vollkommen zu verwischen, doch es war besser als gar nichts. Wenn er nun durch den künstlichen Bachlauf im Park watete und anschließend in einem weiten Bogen ins Waisenhaus zurückkehrte, konnte er noch rechtzeitig zum Abendessen da sein und so tun, als ginge ihn das Ganze nichts an.
Konnte er so kaltblütig sein?
Valentine war tot und er dachte nur an sein eigenes Überleben. Wieso stellte er sich nicht einfach? Wieso wollte er trotz allem noch weiterleben?
Er wusste es nicht.
8. Riú Gordon – Washington D.C. – 07.07.2145
Die Befriedigung darüber, dass er Mr Green einschüchtern konnte, hielt nicht lange an. Vor allem aber löste dieses Telefonat sein eigentliches Problem nicht. Es war ihm egal, wer die Sicherheitsgelder veruntreut hatte, er wusste nur, dass diese Person bluten musste. Am besten sofort, qualvoll und während er genüsslich zusah.
Sofern nichts anderes beschädigt war, würde es schon ermittelbar sein, wer das gewesen war.
Er rief erneut Mormannin an. »Die Außenkameras in Gordon City sind defekt. Und zwar jede einzelne.«
»Ich weiß. Wir können die Suchspinnen nicht blind losschicken, das können wir uns nicht leisten. Ich habe bereits Drohnen für Gordon City angefordert, aber bis sie starten und beim Haus der Springfields sind …«
»… ist der Mutant möglicherweise weit weg. Das weiß ich, Bart.«
»Kann die Software ihn zuordnen? Anhand der Videoaufnahmen oder der DNA?«
»Die Bots sind dran. Er hatte die Haare vor dem Gesicht hängen und die Bilder sind teilweise verschwommen.«
Bart seufzte am anderen Ende Nordamerikas.
»Ihr werdet ihn finden und tun, was notwendig ist.«
»Natürlich.«
Riú legte auf. Gleich wie gut sich die Technik in den letzten Jahren wieder entwickelt hatte, er wollte sich das Ganze selbst ansehen. Noch einmal spielte er die Aufnahme ab, bis er ein Bild hatte, auf dem der Mutant aufrecht stand. Riú drückte den Moment-Freeze- und gleichzeitig den Auswertungsbutton, der das Bild zusätzlich mit Schätzungen zu Körpergröße, Gewicht und Alter beschriftete.
Zumindest konnte er so die Suche nach dem Mutanten einschränken lassen, selbst wenn keine genauere Analyse der Daten möglich sein sollte.
Er schickte die Datei an Bart Mormannin.
Parallel dazu drückte er auf einen Button, der ihn direkt mit dem Büro seiner Sekretärin verband. »Glafira, Vorlage M17. Du bekommst gleich die Parameter rein, ich will die Meldung sehen und selbst abschicken.«
Noch ehe die junge Frau antworten konnte, beendete er die Verbindung und schob die ausgewertete Datei in ihren Cloudordner.
Wenige Minuten später hatte er den fertigen Text vor sich auf dem Touchtable: An alle Anwohner Gordon Citys und des umgebenden Bezirkes! Ein gefährlicher Mutant bedroht die öffentliche Sicherheit. Es handelt sich um einen jungen Mann im Alter von ungefähr 17 Jahren. Er hat schulterlange, blonde Haare und trägt ein hellblaues Hemd mit T-Shirt darunter. Seine Augen sind grün, ansonsten ist er schmal gebaut und schätzungsweise 1,70 m groß. Hinweise werden erbeten. Bitte wenden Sie sich dafür an die örtlichen Polizeidienststellen.
Allgemein wird zum eigenen Schutze empfohlen, keine Fremden nach Sonnenuntergang ins Haus zu lassen und keine Obdachlosen vor der Haustür aufzunehmen und in das eigene Heim zu bringen.
Riú Raoulson Gordon, President of the United World.
Diese Nachricht sandte er direkt an den Leiter der Behörde für Propaganda, Giosephe Lobbes. Dessen Aufgabe war es, die Nachricht abzusegnen – oder mit zusätzlichen wirksamen Floskeln auszustatten – und dann an die Polizei weiterzuleiten.
»Nun entwischst du mir nicht mehr, kleiner Mutant.« Er grinste zufrieden. Zum ersten Mal an diesem Abend hatte er das Gefühl, etwas Nützliches getan zu haben.
9. Avriel Adamski – Gordon City – 07.07.2145
Endlich erreichte Avriel das Waisenhaus. Flüchtig sah er sich um. Nach rechts, links, hinten, oben.
Nichts.
Jetzt musste er nur noch ungesehen hinein.
Hastig zog er seinen UniCom aus der Hosentasche und schaute auf die Uhrzeit. Das Abendessen hatte er jedenfalls schon verpasst, das verhieß nichts Gutes.
Das Gerät vibrierte in seinen Händen und er rief die Nachricht ab.
»An alle registrierten Nutzer.«
Er las weiter.
Scheiße. Das war sein Fahndungsaufruf.
Sein Hemd. Sein T-Shirt. Seine Haare. Zum Glück hatte er das Hemd bereits entsorgt und seine Haare hingen so weit in sein Gesicht, dass man es kaum erkennen konnte. Aber was, wenn das nicht reichte? Wie viele Jungs in seinem Alter trugen lange Haare? Und wie viele von denen kannten Valentine?
Übelkeit stieg in ihm auf, traf auf einen schmerzhaften Kloß in seinem Hals. Er lehnte sich an den Baum vor dem Waisenhaus und übergab sich so lange, bis er nur noch Magensaft spuckte.
Er verlor wertvolle Zeit.
Schnell