2145 - Die Verfolgten. Katherina Ushachov. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Katherina Ushachov
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742709752
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Ich mei­ne, das hier ist mein Zu­hau­se, oder?« Er starr­te sie ge­hetzt an. »Ich ha­be kein an­de­res …« Doch tief im In­ne­ren wuss­te Avri­el, dass sie recht hat­te und er am bes­ten so­fort sei­ne Sa­chen pa­cken und ver­schwin­den soll­te.

      »Va­len­ti­ne, ich woll­te bei dei­nem Va­ter um dei­ne Hand an­hal­ten.« Er er­rö­te­te hef­tig.

      »Mein Va­ter wür­de mich kei­nem Wai­sen­kind ge­ben. Erst recht kei­nem … Du weißt schon.« Va­len­ti­ne ball­te die Hän­de zu Fäus­ten, so­dass sich die Fin­ger­nä­gel ins Fleisch gru­ben.

      »Wenn wir das sieb­zehn­te Le­bens­jahr er­rei­chen, er­hal­ten wir ei­ne Geld­sum­me, die von un­se­ren Schul­no­ten ab­hängt. Va­len­ti­ne, du kennst mei­ne Zeug­nis­se und kannst dir aus­rech­nen, dass das nicht we­nig sein wird!«

      »Avi, wenn … wenn du dar­auf be­stehst, dann komm doch heu­te Abend zu mir. Ich bin al­lein zu Hau­se, da kön­nen wir über al­les re­den, oh­ne …« Sie sah sich flüch­tig auf dem Schul­hof um. Ih­re Stim­me zit­ter­te.

      »Gut. Ich wer­de kom­men.« Er dreh­te sich weg und ging schnell ans an­de­re En­de des Schul­ho­fes, konn­te es nicht er­tra­gen, wei­ter in ih­rer Nä­he zu sein.

      Wenn er Gor­don Ci­ty ver­las­sen muss­te, dann hat­te er kei­ne Wahl. Er muss­te sich von ihr ver­ab­schie­den. Für im­mer.

      Nach der Schu­le stand Avri­el, sau­ber ge­kämmt und mit ei­nem Strauß ih­rer Lieb­lings­blu­men – pin­ke Li­li­en – im Arm, vor Va­len­ti­nes Haus. Sein Herz schlug ihm schon den gan­zen Tag bis zum Hals. Er drück­te auf die Klin­gel und kurz dar­auf glitt die Schie­be­tür ge­räusch­los bei­sei­te. Auf ein­mal war er hell­wach und trotz der Dun­kel­heit im Haus sah er deut­lich die Trep­pen, die zum Zim­mer sei­ner bes­ten Freun­din führ­ten. Er rann­te hoch und fand sich mit klop­fen­dem Her­zen vor ih­rer Zim­mer­tür wie­der. Soll­te er hin­ein­ge­hen? Kurz lausch­te er, doch kein Laut war hin­ter der Tür zu hö­ren. Er drück­te vor­sich­tig die Klin­ke nach un­ten.

      In ih­rem weiß ge­tünch­ten Zim­mer saß Va­len­ti­ne auf ei­nem Stuhl an ei­nem weiß la­ckier­ten Tisch. Ih­re Schu­l­uni­form war mitt­ler­wei­le zer­knit­tert, und im Spie­gel er­kann­te er, dass sie den Kopf auf die Hän­de ge­legt hat­te und schlief.

      Avri­el trat zu ihr und sah zu, wie sich ein paar Haa­re im Rhyth­mus ih­res re­gel­mä­ßi­gen Atems sach­te vor ih­rem Ge­sicht be­weg­ten. Sie wirk­te in die­sem Mo­ment noch zer­brech­li­cher als auf dem Schul­hof – ah­nungs­los und leicht ver­wund­bar, oh­ne Schutz. Die ge­schlos­se­nen Li­der wa­ren ge­rötet, auf­ge­quol­len und zit­ter­ten, als wür­den Alb­träu­me sie pla­gen.

      Doch was ihn be­son­ders an­zog, wa­ren ih­re vom Wei­nen ge­schwol­le­nen, leicht ge­öff­ne­ten Lip­pen. Und oh­ne zu wis­sen, was er da tat, küss­te er ih­ren fie­brig hei­ßen Mund.

      Va­len­ti­ne er­wach­te und schlug ihm ins Ge­sicht. »Wie kannst du nur?« Sie stieß ihn von sich.

      Sein Kopf prall­te schmerz­haft ge­gen ein nied­ri­ges Re­gal. Ein me­tal­li­scher Ge­schmack brei­te­te sich auf sei­ner Zun­ge aus und mach­te ihn ra­send. Gleich­zei­tig hat­te Va­len­ti­ne nie rei­zen­der aus­ge­se­hen als mit die­sem le­ben­di­gen, wü­ten­den Ge­sichts­aus­druck.

      »Es tut mir leid.« Das war ge­lo­gen – der Kuss hat­te ihm durch­aus ge­fal­len, ih­re Lip­pen wa­ren so schön weich …

      »Du Heuch­ler! Ich kann nicht glau­ben, dass du ein­fach über mich her­fällst!« Va­len­ti­ne schlug ihn er­neut.

      Plötz­lich sah er rot – oder eher hell, die Far­be ih­rer Haut …

      »Avi!« Der Ruf ging in einen lang ge­zo­ge­nen Schrei über, der Avri­el nicht mehr er­reich­te.

      Wie ein Raub­tier pack­te er sie und ver­senk­te sei­ne Zäh­ne in ih­rem Arm, füll­te sei­nen Mund mit ih­rem Ge­schmack, lösch­te das Feu­er in sei­nem Her­zen mit der Küh­le ih­rer sei­den­wei­chen Haut.

      Ihren Schmer­zens­schrei hör­te er nur dumpf, wie durch einen Schlei­er. Ih­re lä­cher­lich klei­ne, schwa­che Faust schlug er­folg­los ge­gen sein Ge­sicht, sei­ne Brust, sei­nen Hals.

      Er pack­te ihr Hand­ge­lenk und drück­te zu, zerr­te dar­an, bis die­ses läs­ti­ge, zu­cken­de Ding ihn nicht mehr ir­ri­tier­te.

      Ver­sank im­mer mehr in ei­nem rot ge­rä­der­ten Wahn. Biss er­neut zu.

      Bis sie sich nicht mehr wehr­te und zu Bo­den sank.

      Doch mit der Ru­he kam auch der Hor­ror. Er blick­te auf Va­len­ti­ne hin­ab und spür­te, wie sei­ne Hän­de zit­ter­ten. Als wür­den sie nicht ihm ge­hö­ren. Aus den Wun­den si­cker­te Blut, aber es lock­te ihn nicht, im Ge­gen­teil. Der An­blick ver­ur­sach­te ihm ein Ge­fühl des Ekels.

      Mit dem Pf­licht­be­wusst­sein ei­nes Schul­jun­gen drück­te er auf den in je­dem Zim­mer in­stal­lier­ten Knopf, der ei­ne Am­bu­lanz her­bei­ru­fen wür­de – er war sich si­cher, dass sie Va­len­ti­ne nicht hel­fen konn­te.

      3. Riú Gordon – Washington D.C. – 07.07.2145

      Riú saß vor sei­nem in den Schreib­tisch ein­ge­bet­te­ten Ar­beits­com­pu­ter im Oval Of­fi­ce und war ganz auf­ge­kratzt. Ei­gent­lich leb­te er in stän­di­ger Furcht, hat­te kei­ne Zeit für Ru­he­pau­sen.

      Er wuss­te ge­nau, dass er sich ob­jek­tiv be­trach­tet am si­chers­ten Ort der Er­de be­fand. Die neues­ten Si­cher­heits­vor­keh­run­gen hat­te er schließ­lich selbst ein­bau­en las­sen und da­mit das Oval Of­fi­ce zu ei­ner un­ein­nehm­ba­ren Fes­tung ge­macht. Selbst wenn je­mand es ge­gen sei­nen Wil­len hin­ein­schaff­te, hat­te er im­mer noch ge­nug Män­ner vom Se­cret Ser­vice vor der Tür, um ei­ne klei­ne Ar­mee auf­zu­hal­ten.

      Und dann dach­te er dar­an, dass sein Va­ter ei­gent­lich an sei­ner Stel­le sit­zen soll­te, und fühl­te sich mick­rig. Wer war er im Ver­gleich zu Raoul Gor­don? Ein klei­ner Jun­ge, auf des­sen Rücken die gan­ze Welt lag. Und ir­gend­wann wür­de er un­ter ih­rem Ge­wicht zu­sam­men­bre­chen.

      Da­bei war nicht ge­ra­de hilf­reich, dass sich nach dem Tod sei­nes Va­ters sämt­li­che KI-As­sis­ten­ten ein­fach ab­ge­schal­tet hat­ten und Riú so­mit ei­ne Welt zu­sam­men­hal­ten muss­te, die tech­nisch um fünf­zig, wenn nicht gar hun­dert Jah­re in die Ver­gan­gen­heit ka­ta­pul­tiert wor­den war.

      Nun war je­doch die auf­rei­ben­de Bild­schirm­ar­beit be­en­det, er hat­te nichts zu tun und ge­nau das mach­te ihn ner­vös, so­dass er sich per­ma­nent da­von ab­hal­ten muss­te, auf dem Touch­s­creen her­um­zu­trom­meln und da­mit un­frei­wil­lig Be­feh­le aus­zu­lö­sen.

      Er könn­te das Gerät aus­schal­ten, das Oval Of­fi­ce ver­las­sen und sich aus­ru­hen. Ei­ni­ge Stun­den gar nichts tun und hof­fen, dass er nicht auf Schlaf­ta­blet­ten zu­rück­grei­fen muss­te, um die drin­gend not­wen­di­ge Ru­he zu be­kom­men.

      Und wenn ge­nau in die­sem Mo­ment ein At­ten­tä­ter da­bei wä­re, sei­nen per­fi­den Plan in die Tat um­zu­set­zen?

      Nein. Er muss­te blei­ben. Schla­fen konn­te er auch spä­ter noch.

      Schon seit Mo­na­ten hiel­ten sich die­se ver­damm­ten Mu­tan­ten