Der Eindringling. Hermann Christen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hermann Christen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742750112
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nicht nur Streber…"

      "Nein, er kennt unsere Vereinbarung nicht…"

      "Ja, Bären sind Fleischfresser…"

      Letztere Aussage beruhigte Junghirsch Buran, Rudolfs zweiten Problemschüler. Buran hatte befürchtet, dass dieses baumhohe, fliegende Wesen das frische Gras von der Wiese vor dem Wald fressen oder mit seinem Feueratem abfackeln würde. Aber als Fleischfresser würde dem Riesen das saftige Gras egal sein.

      Alle waren da!

      Merlin schuhute, um sich Gehör zu verschaffen. Der Lärm war zu laut.

      "Vielleicht verschwindet er nur schon wegen dem Krach", dachte er verärgert, "kein Tier hält das lange aus..."

      Er wandte sich an Herrn Specht.

      "Könnten Sie auf den Baum hämmern?"

      "Sicher nicht", empörte sich Madame Bea, "sonst verrutscht die Bandage!"

      Merlin bewunderte die kunstvolle Arbeit von Madame Bea - Herr Specht glich jetzt einer Mumie mit Flügeln.

      "Ich mach das", rief Eichhörnchen, schnappte sich einen Ast und kletterte den Baum hoch. Mit aller Kraft klopfte es an den Stamm. Langsam verstummten die Gespräche und die Augen richteten sich auf Eichhörnchen und Merlin, der neben seinem Freund Platz genommen hatte.

      "Hört mich jeder?", rief Merlin.

      Die Tiere schauten gespannt und ängstlich zugleich auf. Merlin würde sicher wissen, was zu tun war.

      "Rudolf hat heute einen Bären im Wald entdeckt und ich habe euch zusammengerufen, damit wir beraten können, was wir unternehmen wollen."

      Ein Raunen lief durch die Reihen der Waldtiere.

      "Wir dachten, du weißt was zu tun ist", rief eine verzweifelte Stimme.

      "Mag sein", meinte Merlin geheimnisvoll, "aber vorher will ich wissen, ob schon wer Erfahrung mit dem Vertreiben von Bären hat."

      Er blickte auf die schweigende Menge. Er erwartete keine Wortmeldung. Die Augen aller klebten auf Merlin.

      'Die erwarten wohl gleich eine Offenbarung von mir', dachte er.

      "Ja, ich habe einen Plan", sagte er laut und langsam, "der funktioniert jedoch nur, wenn wir alle zusammenhalten, keiner zurück bleibt. Wir müssen dem Bären zeigen, dass wir der Boss im Wald sind."

      Merlin ließ seine Worte wirken. Er las Unglaube und Zweifel in den Gesichtern. Und trotzdem würden sie tun, was er ihnen vorschlug, weil niemand sonst eine Idee zur Lösung des Problems hatte.

      "Wie willst du das anstellen", meldete sich ein Hase schüchtern.

      Merlin plusterte sich etwas auf.

      "Ich habe festgestellt", sagte er gewichtig jedes Wort betonend, "dass der Bär nur ein bisschen rum tobt. Es hat nichts gegen uns. Er reagiert sich nur etwas ab. Hat wohl vom Regen die Nase voll – irgendwie kann ich ihn verstehen…"

      "Er soll wieder verduften", rief ein anderer Hase.

      Auf die Entfernung konnte Merlin nicht feststellen, welcher der Hasen es war – vermutlich Hopp-Sing.

      'Vielleicht würde der Bär etwas gegen die Hasenüberbevölkerung im Wald unternehmen. Hasen sollen sich vorzüglich als Kopfkissen für Bären eignen. Oder als Wegwerf-Taschentuch. Es könnte sich durchaus lohnen, den Bären etwas später zu vertreiben…'

      Er schob seine ungehobelten Gedanken bei Seite.

      "Genau – er soll wieder Leine ziehen", bestätigte Merlin.

      "Wer von uns geht", rief Lazarus, der Siebenschläfer, "und erklärt das dem Bären?"

      Lazarus hieß in Wirklichkeit anders, aber keiner im Wald erinnerte sich noch an seinen richtigen Namen. Einmal erwachte er erst im August aus dem Winterschlaf. Als alle schon dachten, er habe den Winter nicht überlebt, tauchte er plötzlich wieder auf und erzählte vergnügt, dass er sich endlich wieder einmal so richtig ausgeschlafen fühle. Seit damals nannten ihn alle Lazarus.

      "Niemand geht ", sagte Merlin bestimmt, "wir gehen zusammen!"

      Er sah ihre Furcht.

      "Er wird eingeschüchtert sein, wenn wir ihm alle gemeinsam gegenübertreten. Glaubt mir!"

      Lautes, protestierendes Geplapper unterbrach Merlin.

      "Hast du Erfahrung mit Bären?", wunderte sich Eichhörnchen.

      "Nicht die Bohne", gab Merlin zu, "aber ich glaube, dass ich richtigliege."

      "Hoffentlich", zweifelte Eichhörnchen.

      Das Geschnatter ebbte ab als Eichhörnchen erneut den Ast an den Baum schlug.

      "Ihr habt also verstanden", sagte Merlin, "dass funktioniert nur, wenn wir zusammenhalten, ja?"

      Viele Tiere nickten, andere zweifelten und blickten besorgt. Einige Tiermütter legten schützend die Pfoten um ihren Nachwuchs.

      "Hier mein Plan: ich werde für euch sprechen und wenn ich den rechten Flügel hebe, dann macht ihr so viel Lärm wie möglich. Hebe ich den Linken, schweigt ihr. Das wird den Bären einschüchtern."

      "Wirklich?", fiepte eine dünne Stimme.

      "Wirklich!", bestätigte Merlin.

      "Merlin hat Recht", rief Eichhörnchen, "wenn wir zusammenhalten, wird er Leine ziehen."

      Merlin gurrte leise und dankbar.

      "Vertraut ihm!", schrie Eichhörnchen.

      Es sprang zwei Äste höher und breitete theatralisch die Arme aus: "wollen wir zusammenstehen?"

      Merlin verdrehte die Augen. Was Eichhörnchen da abzog war hinterstes Landtheater. Aber es funktionierte. Die Versammlung kreischte "Jaaaaaa" und schrie sich gegenseitig Mut zu. Rufe wie "nieder mit dem Bären", "Bettvorleger aus Bären" oder "Bären raus!" waren aus dem tumultartigen Geschrei heraus zu hören. Merlin und Eichhörnchen sahen sich in die Augen.

      "Ich hoffe nur, es klappt", meinte Eichhörnchen.

      Merlin zuckte mit den Schultern.

      "Wenn wir nichts tun, dann wird sich der Bär möglicherweise hier ein nisten und wir werden alle leiden. Wir müssen es wagen!"

      Eichhörnchen nickte.

      Kapitel 2: Der Bär wird gestellt

      Merlin drängte zum Aufbruch, solange die Euphorie keine klaren Gedanken zuließ. Eilig organisierte er den Zug. An die Spitze stellte er Hannibal, den Hirschen, setzte sich mit seiner Erlaubnis auf sein Geweih und feuerte die nachfolgende Menge an. Rudolf erhielt den Auftrag, zusammen mit zwei anderen Füchsen den Schluss zu bilden und darauf zu achten, dass keiner Knöchelverletzungen, Schwindelanfälle oder Herzrhythmusstörungen simulierte, um in den Büschen zu verschwinden.

      "Notfalls droht ihr ihnen", hatte Merlin den Füchsen empfohlen.

      Langsam näherte sich der Zug dem Standort der Bestie. Die Spannung stieg und Merlin bedeutete den Tieren, ruhig zu sein.

      Die unnatürliche Stille hinter ihm zeigte Merlin, dass sie sich fürchteten. Er selber hatte Angst. Hannibal erklomm eine leichte Anhöhe. Dahinter musste der Bär sein.

      "Bleib stehen", flüsterte Merlin Hannibal zu.

      Er wandte sich zu den Waldbewohnern und deutete ihnen, ruhig zu bleiben.

      "Ich checke die Lage", flüsterte er.

      Alle nickten, auch wenn die meisten nicht verstanden hatten, was Merlin sagte. Merlin erhob sich in die Luft, schraubte sich schnell nach oben und überblickte die Lage.

      Der Bär war noch da. Acht oder neun Bäume lagen wie gefallene Soldaten nach verlorener Schlacht auf der feuchten Erde. Er saß abseits auf einem Stein und schien erschöpft. Er atmete schnell und schwer.