Es meldeten sich Gefühle der Scham, wenn sie bedachte, dass sie in Brunswick Jahre an der Seite von Scott, dem dortigen Sheriff verbracht hatte, den sie zwar mochte und respektierte, aber nicht liebte. Und es ließ ihr das Blut in den Kopf steigen, dass sie Cremor darüber im Unwissen ließ. Eines Tages würde sie ihm die Wahrheit sagen müssen.
Hier, am Ende der Brücke, saß er ihr nun wieder gegenüber. Sie wusste, es wäre ungerecht, ihn mit damals zu vergleichen, genauso ungerecht, wie wenn er denselben Vergleich mit ihr anstellen würde. Sie spürte, dass sie ihn liebte wie eh und je, aber es war eine andere Liebe als damals. Sie glaubte nicht, dass sie sich stark verändert hatte. Sie war noch immer das Kind reicher Leute, die ehemalige Ehefrau eines noch reicheren Clan-Chiefs und sie hatte sich in Amerika eine ehrenvolle Position als Lehrerin und Ehefrau des Sheriffs erarbeitet. Wahrlich, sie war stark gewesen, sie war immerhin auch zweimal über den Ozean gesegelt, einmal auf der vergeblichen Suche nach Shauna und nach Cremor, und das zweite Mal mit der Hoffnung, Cremor wieder zu finden. Und sie hatte ihn wiedergefunden, hatte Gewissheit über das Schicksal ihrer Tochter erhalten. Es schauderte sie, wenn sie daran dachte, wie sie ihre Enkelin Maggie zum ersten Mal vor sich gesehen hatte. Die unbändige Maggie. Es trieb ihr Tränen in die Augen, wenn sie daran dachte, dass Shauna ihr eigenes Kind nie gesehen hatte.
Und hier, am Ende der Brücke, saß ihr Cremor gegenüber, kaum eine Armeslänge entfernt. Er, der Maggie auf die Welt geholfen hatte, er, der Shauna beerdigt hatte, dort auf dem Hochtal, in einem eigenen kleinen Friedhof. Es lief ihr eiskalt über den Rücken, als in ihr der Wunsch aufwallte, eines Tages neben ihr zu liegen.
Sie fragte sich, warum Cremor so lange auf sie gewartet hatte. Warum hatte er nicht längst eine eigene Familie gegründet? War seine Liebe so unendlich, dass es dafür keinen Platz gegeben hatte? Sie war bereit, es zu glauben.
Sie fuhr sich mit dem Schal über die Augen, faltete ihn zusammen und legte ihn neben sich auf die Bank der Kutsche.
Die ersten Sätze von Cremor rissen sie in die Gegenwart zurück. „Ich bin froh, dass Du mir das erzählt hast, meine Liebste.“ Cremor musste lauter sprechen als beabsichtigt um das Rattern ihres Gefährtes zu übertönen. „Du solltest Dir keine Vorwürfe machen. Es waren nicht nur die Iren, die in die Sklaverei getrieben wurden. Es waren und sind auch unsere Leute hier. Da machten die Sklavenhändler keinen Unterschied. Wer gälisch sprach, kam dran. Und Dein ehemaliger Mann, Ronald, war einer der ersten, der Bauern vertrieben hatte.“ Cremor atmetet tief aus. „James Moore hat mir erzählt, dass er beinahe die gesamte Kriegskasse geplündert hatte, um den Flüchtlingen die Überfahrt nach Amerika zu ermöglichen. Wer bezahlen konnte, reiste auf dem Ober- und dem Mitteldeck. Die anderen wurden zusammen mit Verbrechern und Deserteuren ins Unterdeck gepfercht.“ Ein leises Schmunzeln überzog sein Gesicht. „James hat haufenweise Belege gefälscht für Verpflegung und Material, was nie geliefert worden ist. Hoffentlich kommen sie ihm nicht auf die Schliche.“ Er wurde wieder ernst. „Das Schicksal dieser armen Leute ist unbeschreiblich. Ich kann dagegen kaum etwas tun, auch ich nicht, Margaret.“ Sein Blick schweifte zum Fenster.
Sie fühlte, dass er nicht hinausschaute, sondern in sich versank. „Wir haben beide eine Vergangenheit, die schmerzt.“
„Was hast Du gesagt?“
Sie schaute ihn liebevoll an. „Sprich, Cremor.“
„Mein Vater hatte mir eingebläut, man soll nicht töten. Das ist fast das einzige, was mir von ihm in Erinnerung ist. Abgesehen davon, dass er mich verleugnet hat.“
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass er nie bewaffnet war. Er hatte weder einen Säbel griffbereit noch trug er eine Pistole.
Cremor stieß ein bitteres Lachen aus. „Ich habe hunderte von Soldaten angeleitet, wie man andere Leute möglichst effektiv ins Jenseits befördert. Ich habe Deine Tochter töten gelehrt. Sie musste mehrere Menschen umbringen. Sie hatte mir das Leben gerettet. Ich habe auch Maggie befähigt, zu töten. Auch sie hatte mir das Leben gerettet, als mich der Leibwächter von MacAreagh erdolchen wollte.“
„Du willst mir doch nicht etwa sagen, dass Du es bedauerst, dass Du niemanden getötet hast?“
Cremor schloss kurz die Augen. „Nein, oder ja, eigentlich. Ich muss Dir sagen, dass ich es war, der Ronald MacAreagh getötet hatte.“ Er hob die Hand. „Oder verletzt hatte, er fiel dann einfach von der Dachzinne.“ Sein Gesicht zeigte Hilflosigkeit.
Es war nur ein kurzer Moment des Entsetzens in ihrem Gesicht und sie fasste sich sofort wieder. „Wusste ich nicht, hättest mir es auch früher sagen können. Dann hätte ich Dir gesagt, dass ich ihm keinen Moment nachgetrauert habe. Er hat nur Unheil angerichtet. Das einzig Gute an ihm war, dass er der Erzeuger von Shauna war.“ Sie ballte ihre Hände. „Außerdem wollte er Dich hängen sehen. Und hat er mich nach Amerika verbannt. Und er trägt die Schuld am Tod von Shauna. Er hat sie gejagt. Sie könnte noch leben.“ Sie schüttelte heftig den Kopf. „Du hast vor etwas anderem Angst, nicht wahr?“
Cremor setzte sich neben sie und umarmte sie. „Meine größte Angst, ist Dich zu verlieren, Margaret. Wir schweben in tödlicher Gefahr. Ich habe mir einen weiteren Todfeind geschaffen. Middlehurst wird nicht ruhen. Er wird mir nach dem Leben trachten. Darum sind alle um mich herum gefährdet. Du, Maggie, Seumas und Mary. Und James Moore. Und Finn.“
Margarets Stimme klang fest. „Wir kennen die Bedrohung. Wir werden uns wehren. Du bist nicht allein, Cremor. Und ich bin nicht mehr die verwöhnte Lady Margaret. Ich kann reiten. Ich will eine Pistole. Ich will schießen lernen.“ Cremor staunte. So kannte er Margaret nicht. In seiner Erinnerung war sie die ruhige, fast ängstliche Lady der weißen Villa gewesen, versorgt mit allem, hingewandt zu ihren Büchern, zu ihrer Tochter Shauna. Jetzt wurde ihm bewusst, wo Shauna ihre kämpferischen Eigenschaften herhatte. Und warum sie in gleichem Masse auch bei Maggie vorhanden waren. Es waren die wahren Eigenschaften vom Margaret. Wie zur Bestätigung hörte er sie noch hinzufügen: „Ich erschieß jeden, der sich gegen uns richtet.“
Middlehurst lobte sich selbst für die Wahl von Hans Hoffman und seinen Kumpanen. Der würde ihm helfen, die erlittenen Niederlagen wieder gut zu machen, mindestens. Darüber hinaus sollte er ihn reicher machen, noch reicher als er schon war.
Middlehurst hatte im Verlauf seiner Karriere viele Offiziere erlebt, die sich nur mit Gewalt und Drohungen gegen ihre Untergebenen durchsetzen konnten. Etliche jungen Männer waren zum Dienst gezwungen worden und nur hohe Strafen hielten sie davon ab, sich bei der nächsten Gelegenheit wieder aus dem Staub zu machen.
Hoffman musste also schon ein viel überzeugenderer Führer sein, dass er eine solche Kohorte um sich scharen und bei der Stange halten konnte. Middlehurst hielt Geltungstrieb und Geldgier für seine Triebfeder und für naheliegend, dass Hoffman seine Leute gut bezahlte. Über deren Eigenschaften und ihre Herkunft machte er sich keine Gedanken. Er hielt sie für Deserteure und Kriminelle, darüber bestand kein Zweifel. Doch selbst er wäre noch überrascht gewesen, wenn er die einzelnen Figuren näher gekannt hätte.
In der Tat gehörte jeder zum miesesten Abschaum, was Zeit und Gesellschaft hervorzubringen vermochten. Mörder auf der Flucht. Sadisten, Folterer, Vergewaltiger, Spinner jeder Art. Holländer, Engländer, ein Landsmann von Hoffman, ein Schweizer Söldner, aus der niederländischen Armee desertiert. Mit Lebensläufen, die einem die Haare zu Berge stehen ließen. Jeder von ihnen war über Leichen gegangen und es berührte sie nicht, wenn unter ihren Füssen weiteres Blut in der Erde versickerte. So lange es nicht ihr eigenes war. Zahlreiche Narben von erlittenen