Aira schaute auf. Ihre Mutter machte die letzten Atemzüge. Die Zwanzigjährige, einem blonden Engel gleichend, hielt ein mit Lavendel getränktes Tuch vor Mund und Nase, als sie sich zu Zustra hinab beugte. Aira versprühte die gleiche weibliche Aura, die ihre Mutter jahrzehntelang verkörperte. Doch im Unterschied zu Zustra, glänzte Airas hüftlanges Haar blond, hellblond, fast weiß. Ihren weichen, ebenmäßigen Gesichtszügen fehlte der slawische Einschlag der Mutter. Lediglich der Glanz ihrer grünen Augen und der sinnliche Schwung ihrer Lippen erinnerten daran, dass es sich bei beiden um Mutter und Tochter handeln musste.
»Du wirst mein Werk fortsetzen«, hauchte Zustra mit allerletzter Kraft.
Aus der Ferne drang das Herannahen eines Hubschraubers an Airas Ohren. Die schweren Vorhänge bewegten sich sanft im aufkommenden Wind. Ein nervöser Sonnenstrahl blitzte unruhig durch den Schlitz des grünen Samtvorhangs und reflektierte sich in Airas silbernen Ohrringen.
»Du weißt, was zu tun ist.«
Aira nickte. Tränen traten ihr in Augen.
»Ja, Mutter«, antwortete sie jedoch mit klarer, fester Stimme und drückte dabei ihre Hand.
Einen Wimpernschlag später röchelte Zustra ihren letzten Atemzug.
»Jetzt beherrsche ich die Welt«, murmelte Aira und steckte das Schlafgemach in Brand. Sie warf einen letzten Blick auf die brennende Leiche ihrer Mutter und verließ mit dem wartenden Apache-Hubschrauber wenige Minuten später die Insel Edgeöya.
ERSTER TEIL
ENTFÜHRUNG
London - Boston - Istanbul - Köln
Ecuador/Guayaquil
2005 - 10.2., 13:30
Neuseeland,
Coromandel/Peninsula,
Mercuray Bay
Szene 2 - Rückblende
Außenaufnahme: Supermarktparkplatz. Spärlich besucht. Flirrende Mittagshitze. Gleißendes Licht. Weder Bäume, noch Schatten. Dosenmüll und die Scherben zerborstener Glasflaschen reflektieren eine nervös zuckende Sonne. Drei verwilderte Hunde streunen um einen Abfallcontainer. Eine junge Frau in Shorts und T-Shirt bekleidet (langes, schwarzes Haar) schleppt schwere Plastiktüten. Ein etwa 40-Jähriger Mann, in Latzhosen (ungepflegtes Äußeres) mustert sie und grinst verschlagen, während er umständlich die Fahrertür seines Dodge Dakota Pickups öffnet. Eine Kassiererin mit ungesunder Hautfarbe tritt durch die Tür des Supermarktes auf den Hof und zündet sich eine Zigarette an. Sie winkt dem Mann zu und schüttelt verächtlich den Kopf, als die junge Frau unweit des Pickups den Kofferraum ihres roten Toyota Corolla öffnet.
Die Explosion war ohrenbetäubend. Sibel schaute sich Hilfe suchend um. Ihr Herz schlug schnell. Irgendwo hinter den Dünen, dort wo sich ihre Forschungsstation befand, musste sich die Detonation ereignet haben.
Sibel hetzte um den Wagen und verließ wenige Augenblicke später mit quietschenden Reifen den Parkplatz des Supermarktes.
Was verdammt noch mal ist passiert?, fragte sie sich besorgt. Hoffentlich hat diese Explosion nichts mit der Klinik zu tun, murmelte sie. Sibel strich die verschwitzten Strähnen ihres langen, schwarzen Haares hinter die Ohren. Hoffentlich ist mit Jan alles okay!
Sibel biss nervös auf ihre Unterlippe. Sie liebte ihn – noch immer und trotz allem! Doch dann fiel ihr ein, dass Jan bereits am frühen Morgen mit dem Rettungsboot aufs Meer hinaus gefahren war. Alles okay, lächelte sie und schaltete den jaulenden Toyota einen Gang höher.
2010 - 25.6., 21:00
Türkei
Istanbul, Beşiktaş
Yeniyol Straße
Szene 3 – fünf Jahre später
Die Zerschlagung der Macht!
Innenaufnahme: Neonlicht-Atmosphäre. Steriler Tagungsraum einer 5-Sterne plus Hotelkette. Blank geputzte Mahagonitischplatten. Technische Einrichtung: Beamer, Soundsystem, Klimaanlage. Drei Palmen, der geografischen Lage entsprechend drapiert, verlieren sich im 500 Quadratmeter großen Saal. Die boden- und deckenhohen Fenster sind durch blaue Rollos abgedunkelt. Deckenstrahler werfen ein diffuses Licht. Auf den Tischen sind Obst, Wasser und Kanapees eingedeckt.
Aira hatte es sich nicht leicht gemacht. Ihre eiskalten Gedankengänge hatten schlaflose Nächte zur Folge. Doch die Entscheidung, die es zu treffen galt, lag auf der Hand.
Heute hatte sie die Spitze, die Henker, Mörder und Helfershelfer ihrer Mutter zusammengetrommelt.
Es galt, sich neu zu positionieren und die Rollen zu festigen. Schließlich war das Matriarchat Yzuhawa unter ihrer Mutter Zustra zu einer wirtschaftlichen Macht herangewachsen, die es zu schützen galt – so dachten jedenfalls die meisten, der hier anwesenden Sektenmitglieder. Doch Aira hegte andere Pläne. Sie wollte mehr. Die Weltherrschaft ist das erklärte Ziel. Mit diesen Worten hatte sie sich in den letzten Wochen immer wieder gepusht. Aira wusste, dass sie nicht nur Befürworter in den eigenen Reihen hatte. Ja, nach dem Tod ihrer Mutter war es nicht auszuschließen, dass sich gefährliche Strömungen innerhalb des Matriarchats gegen sie formierten. Ihr war zu Ohren gekommen, dass so manche sie für ein verwöhntes, dummes Blondchen hielten, das bei nächstbester Gelegenheit abserviert werden solle. Doch all dem hatte Aira vorgebaut und mit der planerischen Sicherheit ihrer Mutter einen eigenen Stab zusammengestellt. Das weltweite Netzwerk steht, flüsterte sie leise. Hab keine Angst. Tu es!
Sie begrüßte die Teilnehmerinnen und erläuterte die wichtigsten Tagungspunkte.
Es war einfach gewesen, fast zu simpel: Airas rechte Hand Katla hatte den Saal betreten und unter dem Vorwand, ein wichtiges Telefonat gebiete keinen Aufschub, Aira für einen kurzen Moment entschuldigt.
Sekunden später wurden sämtliche Saaltüren verriegelt. Massive Rollläden senkten sich vor die Fensterfront.
Szene 4
Außenaufnahme: Schwarze Nacht. Vorder- und Hintergrund werden durch grelle Flutlichtmasten ausgeleuchtet. 21:35 Uhr: Aira bändigt ihr wehendes, blondes Haar und steckt es unter eine schwarze Wollmütze. Ihre Kleider flattern unter den Propellern des Hubschraubers. Sie spricht in ein Walkie-Talkie: „Jetzt!“
Szene 5
Innenaufnahme: 21:36 Uhr! Kellerraum des Hotels. Steril. Die Neonbeleuchtung wirft ein kaltes Licht auf die Szenerie. Katla (kurz geschorenes schwarzes Haar, Nazischeitel, 1,95 Meter groß, bleich, muskelbepackt und mit weit auseinanderstehenden,