Patte wollte erwidern, dass er keinen Vater hatte. Oder ihn zumindest nicht kannte. Doch er schwieg. Wenn er irgendetwas auf der Welt ganz bestimmt nicht sein wollte, dann ein armes Kind.
Als die Lasagne im Ofen war, verschwand Mama oben im Bad. Patte schaltete den Fernseher an. Doch mit seinen Gedanken war er weit fort. Er dachte an das Holzmann-Haus mit seinen einsamen Zimmern. An den Dschungelgarten. An das Ninalachen auf dem Klassenfoto. Er war so in Gedanken versunken, dass er nicht merkte, wie die Zeit verging.
Erst als Mama in seinen Haaren wuschelte, tauchte er wieder auf. Sie trug ein neues Kleid und roch nach Parfum. Ihr Typ hatte ein kariertes Hemd an. Sein Arm lag auf Mamas Schulter. Neben ihm stand ein dünnes Mädchen mit dünnen Zöpfen. Es streckte Patte die Hand hin. Patte berührte sie so kurz wie möglich.
„Das ist also Jule. Jule, das ist Patrick.“ Mama kicherte. Jule auch. Mama sah ganz anders aus als sonst. Nicht nur das Kleid. Auch ihre Augen waren anders. Dunkel und fremd.
Patte hatte auf einmal keinen Hunger mehr. Es war sowieso viel zu warm für Lasagne. Seine Hand in der Hosentasche ballte sich zur Faust. Er würde den ganzen Abend nichts sagen. Gar nichts.
Mama sah ihn an. „Holst du den Salat aus der Küche?“ Patte lief sofort los. Als er an den Esstisch zurückkam, saß Jule neben seinem Platz. Kaum hatte er sich hingesetzt, fing sie an zu quasseln.
„Was machst du in den Ferien am liebsten?“
Schweigen, dachte er und starrte auf die Lasagne, die auf seinem Teller lag und fabelhaft gut roch. Eigentlich hatte er doch Hunger. Und ein voller Mund war der beste Grund, nichts zu sagen.
„Also, ich lese am liebsten Bücher. Pferdebücher. Und du? Welche Bücher magst du?“ Jule sah ihn neugierig an. Patte hasste blöde Fragen. Und er hasste es, angeglotzt zu werden. Am meisten hasste er beides, wenn er aß.
Er schob einen Berg Lasagne in den Mund, drehte das Gesicht zu Jule und starrte sie mit prall gefüllten Wangen an. Jule senkte den Blick und schwieg.
Endlich.
Jetzt konnte Patte in Ruhe darüber nachdenken, wie er auf der Eiche saß und mit Nina in den Rotwald hinüber sah. Vielleicht würden sie gemeinsam das alte Haus erkunden. Millimeter für Millimeter. Vielleicht fanden sie noch mehr Kisten. Dann würden sie gemeinsam ein Kistenreich gründen.
„Patrick?“ Drei Gesichter sahen ihn an.
„Hm?“
Mama runzelte die Stirn. „Du sagst ja gar nichts?“
„Ich esse.“
„Aber dein Teller ist leer.“ Jule grinste.
„Logo. Weil ich esse. Im Gegensatz zu dir.“
„Patrick!“ Mama sah ihn warnend an. „Du musst-“
Thomas fiel ihr ins Wort. „Stimmt“, sagte er. „Julchen, du musst mehr essen.“ Er sah Patte an. „Sag mal, was machst du denn so den ganzen Tag in den Ferien?“
Schon wieder diese Frage. Warum war es so wichtig, was er den ganzen Tag machte?
„Hast du Lust, mit Jule etwas zu unternehmen?“
In Pattes Fantasie breitete sich die Vorstellung aus, wie Jule Pferdegeschichten vorlas. Während das Karohemd auf dem Sofa saß und Mamas Schultern anfasste. Ihm war plötzlich ganz heiß. Am liebsten hätte er „Nein! Scheiße!“ geschrien.
Stattdessen sagte er langsam: „Ich geh am liebsten angeln. Da steht man stundenlang in der Sonne und wird von Mücken gestochen.“ Er drehte sein Gesicht zu Jule. „Das macht dir bestimmt nichts aus?“
Das Mädchen verzog die Unterlippe. Im Augenwinkel sah Patte, wie Mama ihre Stirn rieb. Das machte sie immer, bevor sie etwas Vorwurfsvolles sagte. Das Karohemd legte seine Hand auf ihre.
Mama sah Thomas an. „Sollen wir noch etwas unternehmen? Spazieren gehen? Oder Kino?“
Das Hemd stand auf. „Ein anderes Mal, Susanne. Julchen muss jetzt nach Hause.“ Er beugte sich vor und flüsterte Pattes Mutter etwas ins Ohr. Patte hörte so etwas Ähnliches wie „Zeit“ und „lassen“. Sie nickte und sah plötzlich gar nicht mehr nach Vorwurf aus.
Patte atmete auf. Als seine Mutter mit den zwei Fremdkörpern nach draußen ging, rannte er hinauf in sein Zimmer und ließ sich aufs Bett fallen. Er angelte noch einmal nach seinem Buch, klappte es aber nicht auf, sondern ließ seine Hand darauf liegen. Im Halbschlaf zuckte er noch einmal hoch, weil Jule ein Pferd aus der alten Kiste hervorzauberte. Dann fiel er in traumlosen Schlaf.
4. Am Pfefferminzsee
Der Angelhaken platschte leise ins Wasser. Patte sah zu, wie der Köder unter die Oberfläche trudelte und im grünlichen Schimmer versank.
Es raschelte im Schilf.
Ein Vogel? Eine Schlange?
Unsinn, hier gab es keine Schlangen.
Noch ein Rascheln.
Dann Schritte.
Wer konnte das sein? Patte erspähte einen blonden Schopf zwischen den Stängeln. Jule? Hatte Mama sie hierher geschickt? Pattes Hand krampfte sich um die Angel. Sein Herz raste. Doch was zum Vorschein kam, war schlimmer als Jule. Es war Flip, der mit glühenden Wangen durchs Gestrüpp stapfte.
„Was willst du denn hier?“, fragte Patte fassungslos.
Flip reckte den Kopf. „Deine Mutter hat gesagt, dass du hier bist.“
„Meine Mutter. Na, toll.“
„Ja, ich hab sie gefragt, wo du bist, und da …“
„Dauernd läufst du mir nach! Was willst du von mir?“
Patte war stinksauer. Nicht nur auf seine Mutter, weil sie diesen Blödmann hierher geschickt hatte. Nein, auch auf Flip. Er klebte seit Wochen an Pattes Bein. Fand alles toll, was Patte sagte. Und machte seltsame Vorschläge, wie er seine Freizeit mit Patte gestalten wollte. Brettspiele zum Beispiel. Gemeinsam ein Buch lesen. Oder um die Wette essen. Ganz offensichtlich plante er, Pattes Freund zu werden. Ganz offensichtlich übersah er, dass Patte darauf keine Lust hatte.
Flip balancierte unbeirrt am Ufer weiter. Wahrscheinlich wollte er auch gleich wissen, was Patte den ganzen Tag so machte.
„Du warst in der Holzmann-Villa!“
„Woher willst du das wissen?“
„Ich … ich hab dich gesehen. Ähm … zufällig.“
„Zufällig. Aha.“
„Ja … ich hab gesehen, dass du in dem alten Haus warst.“
„Das hast du schon gesagt. Und es geht dich nichts an.“
„Und wenn ich es deiner Mutter sage? Dass du dort warst?“
„Bist ne Petze, was? Passt zu dir.“
„Ich weiß, was du gemacht hast. Du warst ziemlich lang drin und hast was mitgenommen. Das gehört dir nicht.“
„Na, so was.“
Flip drückte die kugeligen Köpfe der Wasserminze zur Seite, betrat den Bootssteg und schlich bis ans Ende. Patte spürte seinen Blick im Rücken.
Flip holte Luft. „Ich hab geseh-“
„Schhh! Du verjagst die Fische! Hau ab! Geh zu Papa!“
„Der weiß nicht, dass ich hier bin.“
„Und warum bist du hier?“
„Ich weiß, was das für ne Kiste ist.“
„Keine Ahnung, was du meinst.“
„Na, die Kiste!“
„Welche Kiste?“