Patte musste sich also beeilen, wenn er genug Zeit für die Holzmann-Villa haben wollte. Flip hatte erzählt, dass die Villa bald abgerissen würde. Der blöde Streber wusste zwar immer alles besser. Doch wenn er recht hatte, dann war jetzt Pattes letzte Gelegenheit. In den Pfingstferien war er am Stacheldraht hängen geblieben. Drüben, beim großen Loch in der Mauer. Er ballte die Hände zu Fäusten. Nur Anfänger und Idioten blieben in Zäunen hängen.
Sein Blick wanderte durch den verwilderten Garten hinter dem Eisentor. Ein perfekter Ort für ein Versteck. Niemand würde Patte finden. Nicht einmal Flip, der ihm seit Tagen hinterherdackelte.
Er musste hinüber. Unbedingt. Wer weiß, was ihm sonst entging? Das alte Haus beherrschte seine Gedanken wie kaum etwas anderes.
„Verdammt nochmal, ich schaff das“, flüsterte er mit zusammengebissenen Zähnen. „Ich schaff das. Und wenn ich drüber fliegen muss.“
Er sah an der Mauer empor, die das Grundstück wie eine Festung umfriedete. Dann drehte er sich nach links und folgte ihr in den Wald hinein. Hoch über seinem Kopf rauschten die Wipfel der Holzmann-Bäume im Wind. Büsche drängten sich von links heran. Je weiter Patte ging, desto dichter wurde das Gesträuch, bis fast kein Sonnenstrahl mehr durchsickerte. Ein grüner Tunnel verschluckte ihn. Zweige streiften seinen Hals, huschten über sein Gesicht und schlossen sich raschelnd hinter ihm. „Geh nicht weiter“, wisperten sie, „bleib stehen“.
Patte trat fester auf. Die Blätterhöhle verdunkelte sich mit jedem Schritt und mündete in eine meterhohe Hecke, die sich über die Mauer schlängelte. Wäre er ein Käfer, dann könnte er hinüber krabbeln. Doch er war nur ein elfjähriger Patrick Stern, der auf eine Laubwand starrte. Er sah sich um. Links lag der Rotwald. Vorne und rechts so was ähnliches wie Urwald.
Ob er umkehren sollte?
Nochmal auf die andere Seite?
Aufgeben?
„Nie im Leben“, sagte er laut. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und rutschte in den Graben, in dem die Hecke wurzelte. Immer tiefer grub er sich ins Dickicht, versank in Farnwedeln und feuchter Erde.
„Mistscheiße!“ Seine Stimme erstickte im Laub. Crocodile Dundee hätte jetzt alle Pflanzen zerhäckselt und nicht die Spinne angestarrt, die über seinen Arm wuselte. Patte schüttelte sich und stapfte weiter. Und plötzlich, als hätte jemand einen Vorhang gelüftet, war das Durcheinander vorbei. Eine Eiche versperrte den Weg. Ihr Stamm hatte sich halb in die Mauer gefressen. Ihre Äste zeigten wie knorrige Finger in den Holzmann-Park hinüber.
Pattes Herz schlug schneller. Das war es! Das Leben konnte so einfach sein. Er sah sich nach allen Seiten um. Außer ihm und zwei Millionen Bäumen war niemand hier.
Er schätzte die Eiche ab. Sie mochte drei oder vier Meter hoch sein. Die Äste sahen alt aus, aber nicht morsch. Das würde er schaffen.
Schnell kletterte er am Geäst hinauf, kroch über die Mauer und sprang auf die andere Seite. Für einen Moment hielt er inne und lauschte. Eine Grille zirpte. Fliegen summten. Sonst war es still.
Er mochte es kaum glauben, doch er hatte es geschafft. Er war wirklich in eine fremde Welt getaucht, dicht wie ein Dschungel, größer als ein Fußballfeld. In seiner Mitte schimmerte die Schildkröte durch wildes Grün. Er pfiff leise vor sich hin. Jetzt konnte es losgehen. Vor ihm lagen ein langer Sommer, eine alte Villa und ein Urwald, ganz für ihn allein.
Wachsam pirschte er vorwärts. Jetzt, wo er endlich auf demselben Grundstück war wie das alte Haus, fühlte es sich auf einmal unwirklich an. Fast wie ein fremder Planet. Langsam schlich er weiter, durchquerte einen Tunnel aus Kletterpflanzen. Einen Kastanienwald. Dann blieb er stehen.
Vor ihm ragte die Villa in den Himmel. Aus der Nähe betrachtet sah sie noch größer, älter und einsamer aus. An der Treppe, die zur Eingangstür hinaufführte, quoll dasselbe Gestrüpp wie aus den Mauern. Patte stieg hinauf. Zwölf Stufen, überwuchert, zerbrochen und seit langem vergessen. Eine Eidechse huschte in eine Ritze, als Patte kam. Vor der Eingangstür hielt er inne. Sie war mit einem schweren Vorhängeschloss gesichert. Das war ein Witz, denn unterhalb des Türknaufs klaffte ein riesiges Loch.
Patte grinste spöttisch. Das war leicht. Das Holz würde schnell zersplittern. Er musste nur etwas finden, um das Loch aufzuhebeln. Er sah sich um. Unter den Kastanien könnte er vielleicht einen Ast finden. Oder in dem Schuppen, in der Nähe der Eiche, über die er geklettert war. Oder sonst irgendwo in diesem Urwald. Er drehte sich um und blickte mit der Miene eines erfolgreichen Eroberers über den Garten. Er fühlte sich stark, sicher und frei. So schlenderte er die Treppe hinunter, auf der Suche nach einem Säbel, mit dem er die Tür erdolchen würde.
Er musste nicht weit gehen. Unter den Kastanien fand er, was er suchte. Patte rannte schnell zurück zur Eingangstür. Wenn man das Haus ohnehin abreißen wollte, war es egal, aus wie viel Loch die Tür bestand. Er steckte den Ast hinein und drückte. Holz krachte und splitterte. Die untere Türhälfte gab mit einem Knirschen nach, schneller als Patte gedacht hatte. Er bückte sich und schlüpfte hinein.
Halbdunkel umhüllte ihn wie ein Mantel aus Samt. Warme, abgestandene Luft schlug ihm entgegen. Durch die Ritzen der zugenagelten Fensterläden fielen staubige Lichtstreifen. Patte ging einen Schritt in den Bauch der Schildkröte hinein. Es roch nach verfaultem Holz und Moder. Unter seinen Füßen ächzte der Parkettboden.
Neugierig sah er nach allen Seiten. Hoch über seinem Kopf wölbte sich eine Dachkuppel aus buntem Glas in den Himmel. Um ihn herum dehnte sich ein Raum, viermal so groß wie sein Zimmer und mindestens dreimal so hoch. An seinem Ende wand sich eine Treppe nach oben. Vor den Aufgang waren Bretter genagelt und darauf ein Schild „Nicht betreten! Einsturzgefahr!“
Er drehte sich um und schlich tiefer ins Haus hinein. Der Staub unzähliger Jahrzehnte erstickte jedes Geräusch. Draußen erklang der Ruf eines Kuckucks wie ein Lied aus einer fernen Welt.
Patte durchquerte das ganze Erdgeschoss. Einsame Zimmer gähnten in die Leere. Außer Staub und Stille war hier unten nichts zu finden. Jetzt war das Obergeschoss an der Reihe. Patte sah beiläufig auf die Uhr. Schon fast halb Vier! Hastig drehte er sich um, stolperte und fiel zu Boden.
Als er sich hochrappelte, erstarrte er. Hatte sich unter seiner Hand etwas bewegt? Er krabbelte rückwärts und starrte den Boden an, als wäre er ein gefährliches Tier. Nichts rührte sich. Aber da hatte sich etwas bewegt! Oder hatte er sich das eingebildet? Er streckte den Arm aus und verlagerte sein Gewicht nach vorne. Da! Der Boden bewegte sich noch einmal! Gab es hier einen Geheimgang? Das musste Patte genau wissen. Er rappelte sich hoch, nahm den Ast, mit dem er die Tür aufgehebelt hatte, und drückte ihn auf den Boden. Er klopfte, bohrte, hämmerte. Und plötzlich gab eine morsche Bodendiele nach. Sie zerbrach mit lautem Knacken und gab einen Hohlraum frei.
Etwas Rechteckiges lag darin.
Patte kniete sich hin, beugte sich darüber und pustete. Eine Staubwolke flog wie ein Bienenschwarm um seine Nase und segelte in Flocken auf sein T-Shirt herab. Er nieste einmal, zweimal. Und dann, als der Staub sich gelegt hatte, sah er es genau. In dem Hohlraum lag tatsächlich etwas. Er berührte es vorsichtig. Das Ding ließ sich bewegen. Was war das?
Seine Finger strichen darüber, befühlten es, griffen es fester und holten es heraus. Patte wischte mit dem Saum seines Shirts darüber. Es war eine Kiste aus dunklem Holz, von der Größe eines Taschenbuchs. Auf ihrem Deckel schimmerte eine Zeichnung aus verblichenem Gold. Patte wollte sie öffnen, aber sie war verschlossen. Er hielt sie an sein Ohr, schüttelte sie. Nichts zu hören. Noch einmal beugte er sich über den Hohlraum, doch er war leer.
Ein weiterer Blick auf die Uhr erinnerte Patte an die Gefahr eines langen Sommers ohne Angel, ohne Fahrrad. Er schnappte die Kiste und hastete zur Eingangstür. Im Vorübergehen warf er einen sehnsüchtigen Blick nach oben. Vielleicht gab es dort noch mehr Geheimnisse? Er musste noch einmal herkommen. Aber jetzt musste er sich beeilen.
Er