»Und als das Feuer immer stärker brannte, und als die Leute dich nach vorne schoben, da kam plötzlich aus der Luft der Leibhaftige. Er flatterte mit den Flügeln und zappelte mit den Beinen. Seine Füße sahen aus wie Pferdehufe. Er flog um mich herum und löschte das Feuer mit einem kräftigen Harnstrahl. Da rannten alle schreiend weg.«
Während die Frau davon sprach, ruderte sie mit den Armen. Dann hielt sie einen Moment inne. »Auf einmal war er wieder verschwunden. Und als die Leute nicht zurückkamen, habe ich versucht mich zu befreien. Dann tauchte plötzlich dieser Junge auf und hat mich losgebunden. Sonst hätte ich es vielleicht nicht geschafft.«
Also hat sie der Teufel gleich doppelt gerettet, dachte Anna.
»Dich hat der Teufel auch gerettet«, hörte sie die Frau jetzt sagen. Nachdem er mich vorher in diesen Schlamassel geschickt hat, dachte Anna.
»In Gefahr hast du dich selbst gebracht«, hörte sie jetzt die Stimme des kleinen Teufels, der noch immer in der Gestalt des Jungen steckte, »Dein 'Oh Gott' hat dir wohl nicht geholfen?«
Anna versuchte, diese Bemerkung zu ignorieren.
»Warum«, fragte sie, »wollten die Leute dich verbrennen?« »Weil ich eine Hexe bin«, sagte die Frau leise.
»Weil sie dich für eine Hexe halten«, meinte Anna. »Weil ich eine Hexe bin«, wiederholte die Frau.
Sie ist keine Hexe, dachte Anna.
»Aber wer ist sie?«, fragte der Junge.
Anna gab keine Antwort, ihr kam wieder in den Sinn, wie ähnlich sich die beiden Frauen sahen.
Derweil stand die »Hexe« schweigend vor ihnen und blickte geistesabwesend in die Ferne. Anna fasste die Hand des Jungen.
»Und wie geht es weiter? Was tun wir jetzt?«, fragte sie leise, »Denkst du, diese Frau kann jetzt so weiterleben wie früher? Sobald sie nach Hause kommt, geht doch der ganze Spuk wieder von vorn los.«
»Du meinst, man kann sie nicht mehr retten, sie ist ohnehin verloren?«, fragte der Junge. Anna nickte.
»Viele Chancen hat sie nicht«, meinte der Junge.
»Dann war ihre Rettung vom Scheiterhaufen also sinnlos?«, rief Anna.
»Hätten wir zulassen sollen, dass sie verbrennt?«, fragte der Junge.
Anna schüttelte den Kopf. Das alles verwirrte sie. Eigentlich war alles falsch und nichts richtig. Mit einem Mal spürte sie wieder, wie schrecklich kalt es war. Sie begann zu zittern. Da legte der Junge den Arm um ihre Taille, so dass ihr allmählich wärmer wurde.
»Jetzt«, sagte er, »hat sie eine neue Lebenschance.«
»Aber wie kann sie die nutzen? Sie weiß doch überhaupt nicht, wie es für sie weitergehen soll.«
Die Frau schien die ganze Zeit nicht wahrzunehmen, was Anna und der kleine Teufel beredeten.
»Möchtet ihr mitkommen?«, fragte sie auf einmal. Anna bemerkte das erst, als sie ihre Frage eindringlicher wiederholte. Und der Junge hatte bereits genickt, während Anna noch zögerte.
Was soll's, dachte sie dann, wenn der Teufel dabei ist: Was kann uns da schon passieren?
9. Etta, die Hexe
Die Landschaft war karg und machte eher traurig. Wer wollte in einer solchen Einöde wohnen? Das Dorf lag nicht allzu weit von der Hinrichtungsstätte entfernt, an der die Leute den Scheiterhaufen aufgeschichtet hatten. Sie aber waren auf dem Weg in eine andere Richtung, das Zuhause der Frau musste wohl weiter vom Dorf entfernt sein.
Anna genoss die Wärme, ja die Hitze, die von dem kleinen Teufel ausging, während er den Arm um ihren Körper gelegt hielt. Sie folgten der Frau, die der kleine Teufel als großer Teufel davor gerettet hatte, auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden.
Aus Dankbarkeit hatte diese Frau sie gewiss nicht eingeladen, mit ihr zu kommen. Denn woher sollte sie wissen, dass der für sie fremde Junge ein leibhaftiger Teufel war? Und Anna hatte wahrlich nichts zu ihrer Rettung beigetragen.
Andererseits war die Frau nun völlig allein. Hatte sie überhaupt Freunde oder Bekannte? Und auch wenn die wussten, dass sie überlebt hatte, wer davon wäre bereit, sich um sie zu kümmern?
»Über was machst du dir Sorgen?«, fragte der Junge neben ihr. »Wie sollen wir ihr helfen?«, fragte Anna.
»Sie hat uns nicht um Hilfe gebeten«, meinte der Junge. »Aber sie hat uns zu sich eingeladen!«, entgegnete Anna.
Die Frau vor ihnen blieb plötzlich stehen. Sie zeigte auf eine kleine Hütte: »Da vorn wohne ich.«
Dann gingen sie weiter, bis sie an der Hütte angekommen waren. Die Tür stand offen. Als sie eintraten, sahen sie, dass einzelne Gegenstände auf dem Boden verstreut lagen. Ein Stuhl war umgekippt, der Tisch stand schräg im Raum.
»Das ist passiert, als sie mich abgeholt haben«, sagte die Frau fast tonlos. Sie vergrub das Gesicht in ihren Händen und begann zu schluchzen.
Anna wollte sie trösten, doch der Junge hielt sie zurück: »Lass sie einen Moment allein.«
Sie gingen vor die Hütte. Und damit es Anna dort nicht zu kalt wurde, umarmte sie den Jungen mit beiden Armen.
Nach einiger Zeit kam die Frau heraus. »Kommt doch in meine Hütte«, sagte sie mit verweinter Stimme, »Mir geht es jetzt wieder besser.«
Anna und der Junge gingen hinein und setzten sich an den Tisch. Währenddessen hatte die Frau einen Eimer geholt und machte sich auf den Weg zum Brunnen, der in der Nähe der Hütte stand.
»Vielleicht kann jemand von euch schon mal Feuer machen«, meinte sie. »Das übernehme ich«, sagte der Junge.
Und während die Frau draußen am Brunnen Wasser schöpfte, machte sich der kleine Teufel am Herd zu schaffen. Und es dauerte nicht lange, da brannte darin ein großes Feuer.
Kurz darauf erschien die Frau wieder mit dem vollen Eimer, setzte einen Topf auf den Herd und goss etwas Wasser hinein. »Ich werde jetzt eine kräftige Suppe kochen«, sagte sie.
Anna freute sich darauf, endlich etwas Warmes in ihrem Körperinneren zu spüren.
»Ihr seid sicher Schwester und Bruder«, meinte die Frau zum Herd gewandt. Ehe Anna darauf antworten konnte, hatte der Junge schon »Ja« gesagt.
»Ich bin übrigens Etta«. sprach die Frau weiter, ohne die Augen von dem Topf auf dem Herd zu lassen, »und wie heißt ihr?«
»Ich bin Anna. Und mein Bruder heißt ...«, begann Anna, doch ihr fiel kein Name ein. Und der kleine Teufel machte keine Anstalten ihr zu helfen. »... Anton«, sagte sie schließlich.
»Anna und Anton«, sagte die Frau langsam, die sich Etta genannt hatte.
Inzwischen war die Suppe fertig, Etta hatte drei Tonschüsseln auf den Tisch gedeckt. Nun schöpfte sie ein Gefäß nach dem anderen randvoll.
»Lasst es euch schmecken!«, sagte sie und setzte sich auf den Stuhl.
Während der kleine Teufel sich nicht lange bitten ließ und langsam den Schüsselinhalt in sich hineingoss, zögerte Anna.
»Was ist?«, fragte die Frau und sah sie an, »Hast du keinen Hunger?«
»Doch, doch«, sagte Anna, »aber hätten Sie vielleicht einen Löffel?«
»Löffel?« Etta lachte: »Der einzige Löffel, den ich habe, ist wohl zu groß für dich. Der ist zum Schöpfen und zum Kochen.«
»Dein Bruder Anton braucht doch auch keinen Löffel«, fuhr sie fort. Und sie setzte ihre Schüssel vorsichtig an den Mund und schlürfte laut von ihrer Suppe.
Was blieb Anna übrig, als es den beiden gleichzutun? Immerhin war die Suppe angenehm heiß und schmeckte