„Nicoles Tod, es war kein Raubüberfall“, erklärt mir Sonja nüchtern. „Naja, das lag fast auf der Hand, denn ihren Schmuck hatte sie ja noch, aber das wissen nicht alle“, gebe ich offen zu. „Nicole hat doch diesen Kennert kennen gelernt?“ „Ja, hab ich doch weitergegeben?“, jetzt bin ich irritiert, was hat er damit zu tun? „Nicht direkt er, mehr das Geschäft, das ION mit Sommers-Hall tätigen wollte. Das schreibt mir Sergej und meint, du könntest mir sagen, wie oder warum diese Kim Baron mehr an einem Bau eines LNG in Triest interessiert ist, wenn du seine Unterlagen siehst. Nur er hat keinen Kontakt mehr zu dir, Sommers-Hall ist ja zu.“
Stille durchdringt den Raum.
„Schick mir die Sachen, ich seh’s mir gleich an, mach schnell, ich will wissen, was es mit der Kim auf sich hat!“, befehlige ich fast in mein Handy.
Erstarrt, warum das alles heute sein muss und gleichzeitig voller Euphorie, mein Wissen ist wieder gefragt, nehme ich die Email von Sonja in Empfang. Zügig erfasse ich Seite für Seite und klar, Kim kannte Kennert aus bekannter Gier, dem Hang so mancher auf dieser dubiosen Segeljacht. Kennert er ist der Boss bei ION, ein einflussreiches Unternehmen nicht nur in Deutschland. ION hält auch wichtige Anteile in einem großen Baukonzern, der federführend den LNG in Triest bauen wird. Kim hält ebenfalls beträchtliche Anteile an dem Baukonzern? Das wusste ich vorher nicht, jetzt wird mir einiges klar. In meinem Hirn rattern die Zellen, was für ein Feeling.
Die Frau ist gut, verdammt gut, einen Mann an der Front bei Hannibal, er – Ron – muss sich fügen, sie kassiert.
Einen weiteren bei ION.
Den nächsten in zweiter Reihe im Baukonzern, denn diesen Namen der dort Gereihten kenne ich zu gut, Ben vom Tontaubenschießen! Muss er denn auch hier im Baukonzern noch üben – oder kann er das schon? Lächelt mein Mund, meine Augen durchforsten weiter.
Somit hat Kim auch in ihrem mir bislang unbekannten Unternehmen die Kontrolle gut im Griff.
Dann ihr drittes Ding, diese Investmentfirma als Spielwiese für ihre Zöglinge.
Wow, eine mir Ebenbürtige? Was für ein Gedanke? War das ich? Hab ich nicht vormittags damit gerungen, ob ich wohl einen günstigen Parkplatz ergattere? Jedenfalls liegt es auf der Hand, dass Kennert nicht mit ION bei Sommers-Hall seine – und Kims – Zeit verschwenden soll…
Nicole sollte doch für Kennert mit seinen russischen Partnern reden, um die Investitionen im Unternehmen nach Europa aufzuteilen. Sommers-Hall ist somit auch Kim ein Dorn im Auge gewesen? Na klar, wenn Kim, besser wohl ihr Baukonzern, einen LNG baut, dann will sie keinen Speicher oder ein besseres Speicherverfahren. Sondern sie will Umsatz, also tatsächlichen Transport!
Sommers-Hall hätte auf ION nie als Investor vertrauen können, dafür hat Kim durch oder mit Kennert gesorgt. Auch Hannibal hat Sommers-Hall im Weg gestanden. Was wohl Ron tatsächlich von all dem weiß?
Shit, somit konnte mein Jamaika–Trip nie wirklich einen Erfolg für das Speicherverfahren bringen.
Mann, bin ich naiv gewesen, so lehne ich mit dem Rücken am Wandschrank und verstehe: Nie hatte ich einen Funken an Chance, nie!
„Mum, stimmt das so?“, erkenne ich ein Heft vor meiner Nase. „Ja, ja, das passt!“, registriere ich Aaron, er hat auch Englisch erledigt. Gott sei Dank für ihn keine große Sache, denn Englisch ist mir schon seit die Kids im Kindergarten waren, wichtig gewesen, meine Kinder sollen es nicht langatmig lernen müssen, jetzt können sie es sprechen und das Schreiben kommt.
„So räumt die Aufgaben zusammen und packt eure Schultaschen für morgen, dann bleibt euch noch eine halbe Stunde am Computer, wäre das was?“, werfe ich in die Kinderzimmer. „Ja, gebongt!“, die einhellige Antwort.
Nun widme ich mich wieder Kim: Nicole musste verschwinden, meine gedankliche Lösung. Das junge Ding tat Kennert nicht gut. Ihm persönlich wohl schon, aber ihm als Schachfigur einer Kim am Spielfeld ihrer Leidenschaften stand Nicole definitiv im Weg.
Was muss solch eine Frau erlebt haben, dass sie so bizarr ist? Noch turbulenter aber mein Gedankenspagat, warum meldet sich Ron genau jetzt, exakt in der Minute, in der Sonja solche Neuigkeiten erfährt? Das will ich wissen, Neugier, meine besondere Leidenschaft!
„Hi, Sonja“, so melde ich mich bei Sonja und erzähle ihr von meiner mutigen Idee. „Aber Angie, wer war das? Ich kann ja nicht schreiben, es wäre Kim oder eine Firma von ihr, du hast zu viel Fantasie, das versteht keiner!“, beinahe entrüstet klingt meine Studienkollegin aus früheren Zeiten. Auch damals entgegnete sie mir so, wenn ich in einem Fachgebiet zu schnell in Gedanken Schlüsse zog, die alles überschlugen. Nun bin ich erfahrener, immer noch schnell im Gedankenfluss, aber sicherer im Umgang damit.
„Sonja, Sergej schreibt, er kennt nicht alle in dieser Baufirma für diesen LNG, kann ich da alle Namen bekommen? Ich brauche noch ein paar Puzzleteile und liefere dir den Namen des Mörders! Was hältst du davon?“
„Exklusiv, versteht sich unter uns?“, Sonja in ihrem Element. „Klar, von mir erfährst nur du etwas!“ „Abgemacht, ich schick dir noch heute eine Mail!“, so endet unser freundschaftliches Gespräch.
Zugegeben, dieses Hin und Her es gefällt mir doch – immer noch.
Zufrieden packe ich unsere Sachen für den bevorstehenden Familien-Kurztrip, nur Geburtstagslaune kommt keine auf.
Shit, das neue Immobilienprojekt von Ron, es hängt mit der Baufirma von Kim zusammen, mein Gedanke, als ich vielleicht voreilig die Badesachen für alle in die Reisetasche verfrachte. Doch die Idee muss ich verfolgen, also tippe ich noch eine Mail an Sonja, sie möge mir auch die Fakten, hinter dieser neuen Immobilienfirma von Ron durchleuchten. Noch eine Italienreise zu dieser von Ron geschilderten Immobilie täte mir gar nicht übel, schmunzle ich und drücke beiläufig auf Senden.
Die Zeit flutet mich mit Träumen und vergeht wie im Flug, denn die Kinder sind bereits im Bett als ich John an unserer Wohnungstüre höre.
„Hi, Darling“, begrüßt er mich im Wohnzimmer, dort zappe ich zwischen Nachrichten. „Hi, wie war das Treffen in dieser Kammer?“, erkundige ich mich. „Interessant, lauter gestriegelte Leute, daran muss ich mich gewöhnen, im Süden sind da alle kulanter!“, schmökert John im Kühlschrank. „Naja, du arbeitest jetzt in einem Konzern und nicht in einem kleinen Labor.“ „Ja, eben, daran muss ich mich gewöhnen, ich mag diese Anzüge nicht, ich arbeite lieber im Labor. Aber doch, die Leute sind interessant, einer stellt sich wichtiger da, als der andere, das ist arg.“
So kenne ich John nicht? „Du musst dir vorstellen, da reden sie vom Surfen. Der eine erzählt, er fährt jetzt wieder, hat angeblich mehr als fünf Jahre kein Surf-Rigg in der Hand gehalten und erzählt frech von einem Sturz. Er wäre schneller gewesen, als das Rettungsschlauchboot in Griechenland. So eines, wie wir früher hatten. Das ist schon länger her, du warst noch verdammt jung!“, lächelt mich John an, greift nach meinen Hüften und setzt sich neben mich aufs Sofa. Ich fühl mich wie mit zwanzig, damals bot uns das kleine Boot Sicherheit. Tatsächlich bei richtig starker Bora, einer bora forte, war dieses Boot für Richy, John, mich und auch andere Surffreunde eine Art Rettung. Brach ein Mast, konnte man sich drauf