Zarskoje Selo am 14. März 1917
Die erste Dampfeisenbahn Russlands wurde 1838 zwischen Petrograd und Zarskoje Selo gebaut und war etwa 27 km lang. Ein Österreicher war ihr Baumeister. Jetzt waren Russland und Österreich Gegner im Krieg.
Oh, ich liebte Zarskoje Selo. Schon immer! Es war hier ganz anders als in Petrograd. Nirgendwo gab es einen besseren Platz für Freigeister. Sogar Puschkin hatte hier gewirkt und seine Spuren hinterlassen. Es gab sogar ein Museum über den großen russischen Dichter in der angrenzenden Stadt. Das kleine Feodorowskij-Städtchen war einfach entzückend zum Bummeln und Einkaufen und ergänzte die Sommerresidenz. Die Symbiose von Parks und Schlössern war unvergleichlich in ganz Europa. Wo gab es noch so ein erhabenes und zugleich behagliches Ensemble? Von den unzähligen berühmten Kunstwerken im Schloss muss man gar nicht sprechen.
Wie wunderbar war es, durch die gepflegten barocken oder englischen Parks zu laufen und am Ufer der dortigen Seen die Schwäne zu füttern. Der Schönste von ihnen war für mich der Alexandrowski-Park. Jetzt im März steckten dort bereits die ersten Frühblüher vorsichtig ihr Haupt der erstarkenden Sonne entgegen. Man sah auch schon erste Bienchen summend herumfliegen und den ersten Honig sammeln. Für kurze Momente glücklich durchstrich ich die herrliche Umgebung, suchte inneren Frieden und Ruhe, doch die vielen schlechten Nachrichten ließen mich letztendlich nicht los und trieben mich rastlos umher.
Bei schönem Wetter beobachtete ich von der prächtigen Paladin Brücke das Treiben der Vögel auf dem See oder den Kampf der Enten um zugeworfene Brotkrumen. Danach trank ich meist einen Tee im Pavillon „Grotte“.
Wir wohnten wie immer im Katharinenpalast und waren in diesem Jahr früher als sonst hierher gekommen. Papa hatte seine Verwandten, die unseren Vater Grigorij ermordet hatten, verschont. Diese waren nur aus Petrograd verbannt worden. Was war das für eine milde Strafe für dieses große Verbrechen! Mama verzieh ihm diese Milde nicht und sorgte sich mehr und mehr um unser Leben. Der Vorwurf, wir wären Deutsche, wurde immer lauter und öffentlicher geäußert. Zuweilen sprach Mama davon, nach Schweden zu fliehen. Doch sie liebte natürlich unseren Vater viel zu sehr, um diese Drohung wahr zu machen.
Die Lage in Petrograd spitzte sich inzwischen weiter zu. Seit einigen Tagen war die Bahnverbindung dorthin unterbrochen. Nur spärlich sickerten Nachrichten zu uns Kindern durch. Die Dienerschaft durfte nicht mit uns über das Geschehen dort sprechen. Das war eine Anweisung von Mama. Glaubte sie wirklich uns auf diese Weise zu beschützen?
Es gab immer wieder gefährliche Unruhen in der Metropole. Einige machtverliebte Aristokraten nutzten die Abwesenheit des Zaren für sich aus und verfolgten ihre eigenen Pläne. Sie schürten das Chaos und verdienten an der Lebensmittelknappheit. Unser Vater war gerade wieder im Hauptquartier der Armee in Mogilew in der Nähe von Minsk. Wir sahen ihn kaum noch. Er verbrachte die meiste Zeit als Oberbefehlshaber im Generalstab an der Front. Unsere Armee verlor mehr und mehr russischen Boden an den Feind. Die Deutschen und ihre Verbündeten stießen Kilometer um Kilometer vor. Selbst der russische Winter hatte sie nicht aufhalten können. Es sah fast so aus, als würden sie den Krieg gewinnen. Das wäre schrecklich. Die Niederlagen lastete man ihm an. Früher hatte er unseren kleinen Bruder gegen den Protest von Mama in das Hauptquartier mitgenommen. Doch seit Rasputin tot war, erschien ihm das Risiko dafür zu hoch. Eine kleine Verletzung konnte unseren Bruder töten. Im ganzen Land herrschte Hunger, da die Felder durch den Krieg nicht ausreichend bebaut worden waren. Die Männer waren ja Soldaten. In den Städten und Fabriken gab es immer wieder Streiks. Die Kommunisten unterwanderten die Arbeiterschaft mit ihren verrückten Ideen. Dazu gab es noch Gerüchte von einem geplanten Umsturz. Aus allen diesen Gründen war ich letztlich froh, hier zu sein. Als Älteste von allen Geschwistern verstand ich die Zusammenhänge und die drohende Gefahr am besten.
Rasputin schien in fast allem recht zu behalten. Mütterchen Russland versank endgültig im Chaos und das Zarentum war bedroht. Das wollte ich aber an dem heutigen Tag gern vergessen. Ich war doch auch noch irgendwie ein junges Mädchen. Nur für einen Augenblick sollten die Sorgen verblassen. Jugend ist doch dazu da, um sie zu genießen.
Heute war der 14.03.1917 nach gregorianischem Kalender, wie wir ihn in Russland verwendeten. Der Rest Europas benutzt die julianische Zeitrechnung. Hiernach war der erste März. Mama war mit Anastasia zu einem Generalsbegräbnis gefahren. Davon gab es leider jetzt viele. Aljoscha bastelte gerade mit seinem Englischlehrer, Charles Sydney Gibbes, Modellhäuser. Am Vormittag hatte ich mit meinem Bruder vorsichtig Ball gespielt. Er war also abgelenkt.
Wir Mädchen waren somit unbeobachtet und konnten endlich einmal das machen, was wir wollten. Und was war das?
Natürlich ein Tanztee! Solche Vergnügungen waren in Kriegszeiten aus Respekt vor den Soldaten und den Toten verboten. Doch welches junge russische Mädchen will nicht tanzen?
„Was ist, wenn Mama herausbekommt, was wir machen?“, fragte ich Tatjana besorgt, die die eigentliche Organisatorin des Exzesses war.
Diese lachte und warf ihr offenes Haar kess von links nach rechts.
„Dann ist es ohnehin zu spät. Olga, willst du denn niemals einen Jungen küssen?“, stellte sie in den Raum.
„Was weißt du schon“, erwiderte ich lachend. „Ich habe schon viele geküsst.“
„Doch nur Papa und deinen Bruder! Das war es dann auch schon“, spottete Maria. Sie war die Jüngste von uns. Meine Wangen glühten plötzlich etwas, da es leider stimmte.
Es klopfte an der Tür. Wir kicherten. Da waren sie, unsere stolzen Kadetten, die wir zu uns gerufen hatten. Sie wussten natürlich nicht, was sie hier erwartete. Alle unsere Kammerdienerinnen und Bediensteten hatten den strengen Befehl erhalten, keinesfalls zu stören. Sicher waren sie froh, auch ein wenig Freizeit zu erhalten. Die Mäuse tanzten eben auf dem Tisch, wenn die Katze aus dem Haus war.
„Herein doch!“, befahl ich mit tiefer, verstellter Stimme. Maria und Tatjana lachten glucksend.
Etwas verdutzt traten die jungen Offiziersanwärter ein. Sie erröteten und wussten nicht so recht, wie sie sich verhalten sollten und traten unsicher steif ein. Die Burschen waren erst vor zwei Tagen aus Petrograd hierher versetzt worden und gehörten zum Wolhynischen Garderegiment. Die schwierige Situation dort gefährdete ihre Ausbildung, welche sie kürzlich begonnen hatten.
Der Mutigste von ihnen nahm militärische Haltung an und salutierte, als wären wir seine Befehlshaber. Die anderen kopierten seinen Gruß etwas verzögert.
Wir kicherten erneut. Das führte bei den jungen Männern zu noch mehr Röte in ihren Gesichtern.
„Man hat uns befohlen, hier zu erscheinen“, stotterte der selbst ernannte Anführer erklärend.
Da ich die Älteste war und auch militärisch ja gewisse Erfahrungen besaß, übernahm ich die Rede.
„Jawohl, meine Herren Offiziersanwärter! Ein ganz besonderer Auftrag, streng geheim!“, tat ich wichtig.
Maria prustete heraus und konnte ihr kindisches Lachen nicht zurückhalten. „Mein Gott!“, keuchte sie schier atemlos.
„Ein bisschen Haltung!“, ermahnte ich die Schwester scheinbar streng. „Was sollen die Herren Offiziersanwärter sonst von dir denken?“
Die uniformierten Burschen glotzten mich an und verstanden rein gar nichts. Sie sahen durchaus gut aus. Der Jüngste war etwa siebzehn, der Älteste um die zwanzig Jahre alt.
„Nun ja, darf ich vorstellen? Das sind meine Schwestern die Prinzessinnen Tatjana und Maria.“
Beide machten dazu jeweils einen höfischen Knicks. Es war ein Theaterstück und machte wirklich Vergnügen. Die jungen Männer knallten gehorsam die Hacken zusammen.
„Und ich bin Olga, im Moment hier die Herrin des Hauses Romanow, da die Zarin auswärtig beschäftigt ist“, tat ich wichtig mit tiefer Stimme. Das sollte mich älter und bedeutsamer erscheinen lassen.
„Sehr