Ich dachte an das gestrige Konzert, wie es mich aufgewühlt hatte. An den Kampf Fausts mit Mephisto. An das Liebesdrama, welches zur Vernichtung Gretchens führte. Ich dachte an den Komponisten und fragte mich, was er bei der Erschaffung seines Werks gefühlt haben musste. Wie war es möglich, dass ein Mensch durch Musik ausdrücken konnte, was in Worte kaum zu fassen war? Liszt hatte durch die Quinten Technik eine dämonische Übersteigerung der Jahrhundertschrift Goethes geschaffen. Was hatte ihn dazu getrieben? War das Werk eine Selbstdarstellung des Komponisten, Ausdruck seines eigenen inneren Kampfes? Identifizierte er sich selbst mit der Faustgestalt? Wie konnte er damit umgehen und unbeschadet bleiben?
Ich hatte durch die Erläuterungen im Programmheft erfahren, dass Liszt während mehr als zwanzig Jahren immer wieder nach Rom zurückgekehrt war. In dieser Stadt schien er um sein seelisches Gleichgewicht gerungen zu haben. Er hatte die Nähe des apostolischen Stuhles gesucht, war zwischen Kirche und Karriere hin und her gerissen, ließ sich Priesterweihen geben und machte sich daran, die Kirchenmusik zu reformieren. Abbé Liszt, Komponist, Star und Geistlicher. Er hatte Frau und Kinder verlassen und einen eigenen Weg gesucht. So wie ich?
Der Kellner hatte Kaffee nachgeschenkt.
„Wissen Sie, Professor, man kann sich in Rom leicht verlieren. Hier geht es zu und her wie zwischen Himmel und Hölle. Die Übergänge sind fließend. Und obwohl wir in unserer Stadt den Vatikanstaat beherbergen, neigen die Römer zur Sünde. Vertrauen Sie mir. Werden Sie mein Freund. Ich helfe Ihnen dabei, zu finden, was Sie suchen.“
Der Mann war unheimlich. Er hatte diese einnehmende Art, diese unwiderstehliche Freundlichkeit. Man fühlte sich beinahe als Verräter, wenn man ihm nicht zustimmte. Ein Verführer der Spitzenklasse. Sympathisch und zugleich widerlich. Zudem wippte er eigenartig mit seinem Körper und bewegte ständig seine Beine.
„Können Sie mir ein paar Tipps geben, wie ich zu den Stationen Liszts in Rom gelange? Ich war gestern an einer Aufführung seiner Faust-Sinfonie. Die Harmonien haben mich tief beeindruckt. Die Teufelsquinte und der über sich selbst hinaus wachsende Gegenklang. Ich möchte spüren, was in Liszt damals vorgegangen ist, hier in dieser Stadt, und wer am Ende in ihm gesiegt hat, Faust oder Mephisto. Ich glaube, es könnte mir helfen, meinen eigenen Weg zu finden.“
Die Augen des Jesuiten weiteten sich und um seine Lippen schlich ein Lächeln.
„Ja, die süße Verführung des Gelehrten Faust. Auch Liszt war ihr erlegen. Sehr interessant. Faszinierend. Ein Lehrstück. Ein Meisterwerk des Teufels ... oder Gottes, wie Sie wollen.“
„Sagen Sie Monsignore, auf welcher Seite stehen Sie eigentlich, auf der Seite des Teufels oder Gottes?“
„Ich bitte Sie, Professor. Ich bin Priester des Jesuitenordens und Mitglied des Kardinalskollegiums. Meine Welt ist das Bistum Petri. Sie mögen selbst urteilen, auf welcher Seite der Vatikan steht. Mir können Sie voll vertrauen. Ich habe ein gutes Beziehungsnetz in der Kirche und auch in den Straßen Roms. Ich bin Ihr idealer Gesellschafter in dieser Stadt.“
„Ich wollte mir gestern das Leben nehmen.“
„Um Himmels Willen, wie kommen Sie dazu?“
„Fragen Sie Faust oder Liszt ... oder den Teufel.“
„Herr Professor, ich werde Sie in die Tiefen der Sinnlichkeit führen. Sie brauchen diese Befriedigung in Ihrem Leben. Erlauben Sie mir, Ihnen die Geheimnisse Roms zu zeigen.“
„Welches ist der Preis?“
„Wir sprechen doch nicht über Materielles, nicht über Geld, mein Lieber. Es geht um Fragen wie Sünde und Busse, Gott und Satan, seelische Läuterung. Wir Kardinäle sind die Gesandten des Herrn. Die Gläubigen vertrauen uns. Wir verwalten ihre Seelen bis zu ihrer Reinigung im Purgatorium.“
„Und danach?“
„Das Paradies ist nicht in unseren Händen.“
„Nun, von dieser Sache verstehe ich nichts und will auch nichts damit zu tun haben. Mein einziger Wunsch ist, durch die Begegnung mit dem Lebensweg Liszts zu meinem inneren Frieden zu finden, die Quelle seines harmonischen Systems zu finden.“
„Nun, das ist in etwa, was ich Ihnen vorschlagen wollte. Wenn ich mithelfen kann, Ihre Lebensgeister wieder zu wecken, und natürlich auch die sinnlichen, dann ist meine Mission erfüllt. Was Ihre Seele betrifft, ich begnüge mich mit einem Teil ...“
Es wird spannend. Keine Sorge, der Kirchenmann spricht weise.
Ich bin mir da nicht so sicher.
Feigling.
Mistkerl.
Tu doch was du willst.
Tu ich.
„Ich bin dankbar, wenn Sie mein Reiseführer werden, Monsignore.“
Sofort bereute ich meine Äußerung. Was, wenn dieser Priester ein Gesandter des Teufels war, des Herrn der Finsternis? Was, wenn ich mehr verlor, als ich geben konnte?
„Handschlag?“
Wir standen beide auf und reichten uns die Hand. Ich erschrak, als ich die Kälte fühlte, die aus seiner Gliedmaße strömte. Seine Hand war wie Gelee. Mir schauderte. Hatte mich der Kerl betrogen? War ich ihm auf den Leim gegangen?
„Wir sehen uns.“
Dann war er weg, mein neuer Gesellschafter und Begleiter. Seinen Kaffee und die Reste seines Frühstücks hatte er stehen lassen.
Ich blieb noch lange am Tisch sitzen und starrte auf die Türe, durch welche der Jesuitenpriester verschwunden war. Etwas Seltsames ging in mir vor. Ich fühlte mich plötzlich nicht mehr allein. Auch während des Konzertes hatte ich diese Wahrnehmung eines zweiten Ichs gespürt. In meinem tiefsten Inneren schien sich etwas zu bewegen. Vorsichtig versuchte ich, das lebendig werdende Etwas zu fassen. Ich sehnte mich nach diesem undefinierbaren Begleiter in mir. Aber das Ding entzog sich mir, wollte sich meinem Willen nicht unterordnen.
Ich bin bei dir.
Wer bist du?
Ein Teil von dir. Der Begleiter, der dich verführt, manchmal
betrügt, aber stets das Beste will. Der Teil in dir, der dich zur
Essenz des Lebens bringt.
Lass uns endlich beginnen.
Ungeduld ist ein schlechter Freund.
Dann lass uns die Sache behutsam angehen.
So gefällst du mir. Aber der Weg zum Ziel ist beschwerlich. Du
wirst mich noch manches Mal verdammen, bevor die Finsternis
dem Licht weicht. Bist du bereit, dem Bösen eine Chance zu
geben?
Ich bin zu allem bereit, wenn ich von den Zweifeln und Ängsten
befreit werde, wenn die Erleuchtung auf mich wartet und sei es
durch den Tod. Wenn am Ende der Sinn über die Lasterhaftigkeit
siegt.
So soll es sein.
Ich trank den kalten Kaffee aus und beschloss, einen Spaziergang durch die noch kühle Morgenluft Roms zu unternehmen. Auf dem Weg konnte ich eine Buchhandlung aufsuchen. Ich wollte eine Biographie über das Leben Liszts besorgen, mich mit seinen Stationen in dieser Stadt vertraut machen. Und dann würde ich mich dem Kampf der Quinten stellen.
5
Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehen!