Das Blut des Sichellands. Christine Boy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Boy
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844268690
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sein dürfen. Aber ich bereue es nicht. Bis heute nicht.

      Ich bin Cureda Ac-Zyr. Doch ich bin etwas, was du nicht wissen konntest. Ich bin die Erbin des Himmels. Ich bin die Trägerin des heiligen Blutes. Der letzten Linie neben der deinen. Das ist es, was ich nie gewagt habe, dir zu sagen."

      Sie hörte wie Saton entsetzt um Atem rang, doch noch immer hielt sie ihren Blick fest ins Leere gerichtet.

      "Ich bin wie du und doch völlig anders. Und das Kind, das ich unter meinem Herzen trage, wird sein wie wir und doch viel mehr. Es wird die beiden Linien vereinen, die nie vereint werden durften. Es wird das Erbe der Nacht und das Erbe des Himmels in sich tragen. Es wird dem Großen näher sein als je ein Mensch zuvor und es wird mehr wert sein als unser ganzes Volk."

      Sie wartete einen Moment, als wolle sie Saton die Gelegenheit geben zu sprechen. Doch noch ehe er ansetzen konnte, rang sie sich dazu durch, ihm auch die letzte, die entscheidende Wahrheit zu enthüllen.

      "Es gab nur einen, der mir antworten konnte. Nur einen, dessen Wort ich als Gesetz anerkennen konnte. Ich ging nach Yto Te Vel und rief den Einen an, dessen Antwort entscheidend war. Und ich fragte ihn, was geschehen würde."

      Sie schluckte.

      "Er sagte, was ich wusste. Dass dieses Erbe nicht vereint sein dürfe. Dass es mächtig und besonders sein würde. Und dass er dafür strafen müsse, denn ein solcher Frevel könne nicht ungesühnt bleiben. 'Wenn du die Schuld auf dich nimmst für das Leben, das du entstehen lassen willst, dann musst du sie begleichen.' Und ich ... war bereit dazu. Und deshalb... deshalb konnte ich nicht warten, Saton. Ash-Zaharr wird den Preis verlangen. Ich habe ein Leben geschaffen, das nicht sein sollte... und ... er... wird dafür eines nehmen. Wenn unsere Tochter geboren wird.... dann ist das mein Tod."

      Winterrosen blühen nur im Nordwald. Sie sind selten - so selten, dass sogar die Menschen, die dort wohnen, innehalten und ihre Schönheit bewundern, wenn sie sie entdecken. In manchen Dörfern weiter südlich sagt man, sie würden nur an einem einzigen Tag des Jahres ihre Farben zeigen und dann verdorren, doch die Batí von Yto Te Vel wussten es besser. In den Wochen, in denen der Winter wich und der Frühling kam, konnte man sie finden - nachtblau und silbern, wie das Banner des Sichellandes und umgeben von einem Licht, das dem des Mondes ähnelte. Doch wenn der letzte Tag des Winters gekommen war, dann starben sie.

      Saton stand vor einer der letzten Winterrosen dieses Jahres. Er hätte sie fast übersehen als er ziellos durch den Wald gegangen war. Sie war nicht groß, die Blüte hätte er in seiner Hand umschließen können. Aber er tat es nicht.

      Es war der elfte Tag des Rin.

      Einige silberdurchwirkte Blütenblätter waren schon zu Boden gefallen. Ein oder zwei Tage noch. Dann siegte der Frühling. Dann starb die Rose.

      Dann starb Cureda.

      Die letzten beiden Tage hatte er wie im Traum durchlebt.

      Er war ein Batí und zum ersten Mal seit langer Zeit wusste er wieder, was dies bedeutete. Hunderte, tausende, zehntausende Cycala hätten an seiner Stelle den Schmerz und den Zorn aus sich herausgeschrien. Sie hätten geweint und den Gott verflucht, der ihnen ein solches Leid brachte. Ihr Wehklagen hätte die Straßen erfüllt und ihre Wut hätte sich gegen alles und jeden gerichtet, am meisten wohl gegen sich selbst.

      Doch er war ein Batí.

      Nicht fähig, seiner Trauer und seinem Schmerz Ausdruck zu verleihen. Beides brannte in ihm, versengte seine Seele und loderte unerträglich wie die Flammen eines Feindes, doch er konnte nicht dagegen kämpfen. Er konnte sie nur verdrängen. Kurz. Für einige wertvolle Momente, in denen er frei war. Dann kehrten sie zurück.

      Der Shaj versuchte nicht, sich die Worte der Sterbenden ins Gedächtnis zu rufen. Wie sie ihn angefleht hatte, dem Kind nicht die Schuld zu geben. Wie sie ihn beschworen hatte, Ash-Zaharr nicht zu verfluchen. Wie sie ihm nahegelegt hatte, sie zu verstoßen in den letzten Stunden ihres Lebens, aber doch die Tochter willkommen zu heißen, die an ihrer Statt in das seinige treten würde.

      'Du musstest mich nicht um solche Dinge bitten.' dachte er und war erstaunt, wie leicht ihm der Gedanke fiel. Es stimmte. Er würde dem Kind niemals die Schuld geben. Er würde es annehmen, es beschützen mit seinem Leben und es war ihm nicht nur genauso viel, sondern weit aus mehr wert als sein eigenes. Und er würde auch nicht den Gott verfluchen, denn nicht er war schuld an dem Leid, denn es waren die Menschen, die gegen seine Gesetze verstoßen hatten.

      Verstoßen.

      'Nein, Cureda.' dachte er weiter. 'Wie könnte ich das tun? Von allen Sichelländern hast du am meisten Mut bewiesen. Wer bin ich, dass ich dir jemals einen Vorwurf machen könnte?'

      Und auch das war die Wahrheit. Und zugleich das einzige, was er für seine Gemahlin tun konnte. Ihr schwören, dass er ihr nicht verzeihen musste. Weil es nichts zu verzeihen gab. Er hätte an ihrer Stelle vermutlich genauso gehandelt. Wenn er den Mut dazu gehabt hätte. Nicht den Mut zu sterben, aber den zu schweigen. Den Mut, eine solche Last zu tragen und zu verbergen und zu alledem noch etwas so Unglaubliches auf sich zu nehmen.

      Die Vereinigung der letzten Linien.

      Und doch war das einzige, was er in diesem Moment empfand, viel menschlicher, viel einfacher und weniger erhaben.

      Cureda würde sterben. Er würde sie verlieren. Für alle Zeit.

      Er stellte sich immer wieder die gleiche Frage. 'Was hätte ich getan, wenn sie mich vorher gefragt hätte? Hätte ich ihren Tod in Kauf genommen - für dieses Kind?' Aber es war nicht seine Entscheidung gewesen und dass Cureda sie ihm abgenommen hatte, war wohl ihre größte Tat gewesen.

      Der Lohn war der Tod.

      Heute. Oder morgen.

      In der vergangenen Nacht hatten die Wehen eingesetzt. Kein Heiler, kein Diener hätte dies bestätigen können, denn schon seit jenen Stunden, die auf Curedas Geständnis gefolgt waren, wand sie sich unter unentwegten Schmerzen und dem schier unaufhaltsamen Drang, das neue Leben zur Welt zu bringen. Ein jeder war sich sicher, es könne sich nur noch um wenige Stunden handeln.

      Und doch irrten sie.

      Erst heute morgen, vor Erschöpfung schon der Bewusstlosigkeit nahe, hatte Cureda die erlösende Nachricht verbreiten lassen.

      "Es beginnt."

      Erlösend für das Sichelvolk.

      Nicht für Saton. Mit niemandem hatte er bislang die bitteren Erkenntnisse geteilt. Immer wieder war er kurz davor gewesen, Mondor einzuweihen, doch stattdessen hielt er sich von dem Priester fern und zog sich immer mehr zurück. Jetzt schickte Cureda ihn nicht mehr fort, jetzt ließ sie ihn an ihrer Seite zu, aber sie bestand darauf, dass er immer wieder für kurze Zeit hinaus ging, um durchzuatmen, um Kraft zu tanken und sich auf das Kommende vorzubereiten. So wie jetzt.

      "Geh nach draußen." hatte sie gesagt und er hatte sie kaum noch hören können. "Du brauchst eine ruhige Stunde... Sie kommt... aber nicht jetzt... ein wenig noch... bitte... geh hinaus... und komme wieder."

      Es gab keine Bitte mehr, die er ihr abschlagen konnte. Und so war er gegangen. Nicht weit, er konnte das Haus noch sehen. Nur eine Reihe Kiefern trennte ihn von dem Anwesen.

      Und hier blühte die Winterrose, die ebenso im Begriff war zu sterben wie diejenige, die nicht weit entfernt sein Kind zur Welt brachte.

      "Hoher Shaj!"

      Saton wirbelte herum. Ein Diener eilte auf ihn zu.

      "Gibt es etwas...?"

      "Nein, Herr, sie... es dauert noch immer an. Aber... der hohe Herr Wandan ist eingetroffen."

      Saton nickte.

      "Schick ihn in das Besprechungszimmer. Ich komme sofort."

      Wandan. Der Mann, den er als einzigen einen "wahren Freund" nannte. Auch Wandan konnte nichts tun, aber er musste ihn hier haben. Nicht wegen des Versprechens, dass er dem Krieger abnehmen würde und nicht wegen des Schutzes, den er bieten konnte, sondern ganz einfach, weil er den Gedanken nicht ertrug, allein zu sein. Gerade