Lysistratos oder Der Traum von Freiheit. T.F. Carter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: T.F. Carter
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737517072
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an die Königin oder an ältere Arbeiterinnen, die schon viel Erfahrung hatten. Einige der Arbeiterinnen wie zum Beispiel Chalice, Walburga oder Rosenduft hatten sogar noch die Große Kälte erlebt, die viele Arbeiterinnengenerationen zurücklag. Königin Rubinrot, so wurde gemunkelt, hatte bereits vier oder fünf dieser Großen Kälten überstanden. Diese Bienen konnten den jungen Arbeiterinnen viel erzählen. Sie hatten Erfahrung.

      Aber es gab keine alte Drohne im Stock. Keine einzige. Die ältesten waren nur unwesentlich älter als Lysistratos, und ihr einziges Gesprächsthema war, wenn es nicht gerade um Essen ging, das Große Fliegen. Andere Themen interessierten die Drohnen nicht.

      Ich bin anders, dachte Lysistratos. Ich möchte wissen, warum Dinge so sind, wie sie sind. Vielleicht habe ich deshalb auch einen Namen? Lysistratos… Er wusste selbst nicht, warum er sich so nannte. Der Name war ihm in den Sinn gekommen, einfach so. Und er hatte ihn noch niemandem gesagt. Eine Drohne mit einem Namen? Undenkbar.

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      Lysistratos wich zurück, als er Königin Rubinrot auf dem Gang zum Flugloch entdeckte. Junge Arbeiterinnen umwimmelten sie, reinigten sie, reichten ihr kleine Leckereien zu. Hinter Rubinrot folgten Dutzende ihrer Großen Töchter, und jede Arbeiterin, die gerade nichts zu tun hatte, und insbesondere jede Drohne wich respektvoll aus.

      „Das ist die Abteilung der Großen Töchter von heute!“ wisperte Lysistratos‘ Freund.

      „Was macht eine Große Tochter eigentlich genau aus?“ fragte Lysistratos. „Was unterscheidet sie von den Arbeiterinnen? Ich habe das immer noch nicht wirklich verstanden.“

      „Keine Ahnung, was die unterscheidet“, zuckte der Freund mit seinen Fühlern. „Die Großen Töchter sind größer, und sie treten zum Großen Fliegen an. Aber ist doch unwichtig.“ Seine Stimme zitterte vor Erregung, und er stieß Lysistratos mit seinem linken Mittelbein in die Seite. „Sag mal, hast du dir mal Amalthea näher angeschaut? Ist sie nicht ein echter Hingucker?“

      Hinter Rubinrot lief eine fast ebenso große Biene. Selbst die Drohne Lysistratos hatte mitbekommen, dass Amalthea eine Lieblingstochter von Rubinrot war, und das hatte etwas zu bedeuten. Schließlich hatte sie viele, viele Dutzend Großer Töchter, und über lange Zeit waren täglich neue hinzugekommen. Ganz zu schweigen von den unzähligen Arbeiterinnen.

      „Dieser glänzende Pelz, diese Beine, diese Augen, diese Flügel!“ schwärmte der Freund. „Sie ist so schön!“

      Lysistratos ließ seinen Blick über Amalthea laufen und musste seinem Freund Recht geben. Die junge Große Tochter war eine wirkliche Schönheit. Tief in seinen Eingeweiden vibrierte etwas, und er spürte, dass etwas, was die Drohnen anstelle des Stachels hatten, ohne dass er es kontrollieren konnte, ein- und ausklappte. Er hatte dies schon vor zwei Dunkelheiten beobachtet, als ein anderer Schwarm Großer Töchter mitsamt vieler Drohnen den Stock verlassen hatte. Eine weitere Lieblingstochter Rubinrots, Wiesengrün, hatte ihn hierbei versehentlich kurz gestreift, und sein Körper hatte Reaktionen gezeigt, die er nicht verstand. Wiesengrün war dann ausgeflogen, verfolgt von bestimmt einem Dutzend aufgeregter Drohnen, und Lysistratos hatte einige Zeit gebraucht, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen.

      „Ich darf mit Amalthea ausfliegen“, jauchzte Lysistratos‘ Freund.

      „Halt den Mund, Drohne!“ Rubinrots Augen waren auf ihn gerichtet, und der Freund kauerte sich demütig zusammen, bis die Königin sich ihren Großen Töchtern zuwandte.

      „Sie ist schön, so schön…“ seufzte der Drohn auf Lysistratos‘ anderer Seite.

      „Ich habe gehört, es sollen auch andere Große Töchter unterwegs sein“, flüsterte eine weitere Drohne.

      „Und das bedeutet?“

      „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mich kaum noch beherrschen kann, wenn ich Tardena sehe. Ich werde ihr folgen bis an mein Lebensende… Aber ich werde auch nach anderen Großen Töchtern schauen, wenn wir fliegen.“

      „Was passiert beim Großen Flug?“ fragte eine kleine Drohne, die erst heute geschlüpft war und sich unter die großen Drohnen gemischt hatte.

      „Das weiß ich auch nicht“, gab Lysistratos zurück. „Man weiß das wohl, wenn man abfliegt.“

      „Okay“, antwortete die kleine Drohne und krabbelte zurück, um sich von einer Arbeiterin einen Happen Essen abzuholen.

      Okay? dachte Lysistratos. Das ist okay für Dich? Für mich ist das nicht okay. Die Königin erklärt ihren Großen Töchtern alles genau, erzählt ihnen, dass sie einen neuen Hofstaat zu gründen haben, wie sie das machen sollen, worauf sie achten sollen, wo Gefahren lauern. Und die Drohnen, die mitfliegen? Was genau haben wir zu tun? Wir können nicht arbeiten, nicht kämpfen… Wozu brauchen uns die Großen Töchter? Warum sagt uns das niemand?

      „Aus dem Weg!“ Walburga, die alte Arbeiterin, bahnte sich eine Gasse durch die Drohnen hindurch zu ihrer Königin. Sie mochte nicht mehr so beweglich sein und flog auch nicht mehr aus, aber ihr Biss war immer noch schmerzhaft.

      Lysistratos sprang zur Seite, gerade noch rechtzeitig, ein „Entschuldigung“ murmelnd.

      „Ist mir egal, Drohne. Du bist unwichtig. Ich habe Wichtiges zu tun.“ Ohne einen weiteren Blick auf ihn krabbelte Walburga voran.

      „Hahaha!“ lachte ihre beste Freundin Rosenduft. „Aber lass doch den Drohn. Er kann doch nichts dafür, dass er ein Drohn ist.“ Beinahe mitleidig beäugte sie den jungen Lysistratos.

      „Unwichtig, Rosenduft. Unwichtig!“

      Rosenduft klapperte belustigt mit ihren Beißwerkzeugen. Auch sie war schon sehr alt und konnte sich kaum noch bewegen, aber sie gab ihre Erfahrungen an die jungen Arbeiterinnen weiter. „Mach dir nichts draus, Drohne. Walburga ist halt so.“

      Es lief Lysistratos heiß den Rücken hinunter. Eine Arbeiterin hatte ihn angesprochen. Und das ohne Befehlston. Ohne Häme. Er wollte sich bei Rosenduft bedanken, doch sie war schon, leicht ächzend, ihrer Freundin gefolgt. Nachdenklich beobachtete Lysistratos die alte Arbeiterin, während er dem Gespräch folgte, das nun Königin Rubinrot mit ihren Großen Töchtern führte.

      „Ihr habt es von Walburga gehört, meine Töchter“, vermeldete die Königin. „Weitere Hornissen wurden auf der Kleewiese beobachtet. Wir werden uns zeitnah darum kümmern müssen. Damit meine ich uns, mein Volk hier. Eure Aufgabe ist es nicht, in einen Krieg mit Hornissen zu ziehen. Eure Aufgabe ist es, euer eigenes Volk zu gründen. Und dazu müsst ihr klug sein, tapfer und flexibel. Weicht den Risiken aus. Ihr habt nur euch. Aber ihr seid gut vorbereitet. Ihr seid gesund und stark, meine geliebten Töchter.“

      Sie haben nur sich? grübelte Lysistratos. Wo bleiben die Drohnen? Oder sind wir noch unwichtiger als unwichtig?

      „Und nun, geliebte Töchter, ist es an der Zeit, Abschied zu nehmen. Jede einzelne von euch bekommt meinen Segen. Längst nicht jede von euch wird ein Volk gründen können, aber mögen es so viele sein wie möglich.“

      Liebevoll tauschte Rubinrot Zeichen der Zuneigung mit jeder einzelnen ihrer Töchter aus, und nach und nach flog eine jede aus dem Stock. Unruhe machte sich unter den Drohnen breit. Einige drängten zum Ausgang, wurden auch nicht aufgehalten. Tardena flog ab, und sofort folgte ihr der Drohn, der sie so bewundert hatte.

      „Worauf wartet ihr eigentlich?“ raunzte eine Arbeiterin die Drohnen an.

      „Echt?“ jauchzte eine dicke Drohne, sprang in die Höhe und flog den Großen Töchtern nach.

      „Na klar, habt euren Spaß!“ lachte eine andere Arbeiterin. Weitere Arbeiterinnen fielen in das Gelächter ein.

      Während die meisten Drohnen sich das nicht zweimal sagen ließen und zum Ausgang drängten, krampfte sich Lysistratos‘ Magen zusammen. Spaß? Sie lachten zwar, doch das Lachen war irgendwie merkwürdig. Wartete dort wirklich Spaß auf sie? Oder was sonst?

      „Amalthea fliegt“, stöhnte Lysistratos‘ Freund. „Ich kann nicht mehr!“

      „Was kannst