Sehe ich mir meine Biografie an, erkenne ich, dass der Gevatter schon mehrmals heftig mit der Sense gewackelt hat. Habe ihm jedes Mal eine Nase gedreht. Getanzt haben wir schon das ein oder andere Mal miteinander. Mal eng umschlungen, mal Rock `n Roll. Ich sah all zu oft was er hinterlässt. Erst als Soldat und später dann als Altenpfleger. Wir beide kennen uns ganz gut, denke ich. Irgendwann trifft ihn jeder Mensch. Wann und wo und wie wird man selten vorher gewahr.
Im Moment habe ich keine gute Phase. Bin ziemlich traurig, gerührt und ja, auch verängstigt ein Stück weit. Ich will meine Lieben vor Schmerz und Kummer schützen und die Sachlage zwingt mich, ihnen Schmerz und Kummer zu bereiten. Dieses Ambivalente zerreißt mich. Ich gebe nicht auf und ich will auch nicht in ein Tal der Tränen steigen. Ich weiß, dass es kleine Chancen gibt, dem Tod noch einmal zu entrinnen.
Ich stelle mir Aufgaben. Ich habe meine Sachen immer zu Ende gebracht. Unerledigte Sachen hasse ich. Ich habe noch jede Menge zu tun....und was ist mit meinem Lebensmotto: Geht nicht, gibt es nicht? Und gleichzeitig sehe ich ihn vor mir. Ich visualisiere ihn in der klassischen Variante. Mit Eieruhr, Jedikutte und Sense. Der gute alte Jedermann. Vielleicht zieht er ja doch noch einmal weiter. Vielleicht denkt er, dass die Welt schöner ist mit mir darin. Sehen wir dann. Und wenn irgendwann der Zeitpunkt gekommen ist, soll es so sein wie von Reinhard Mey besungen. Euch allen einen schönen Sonntag und denkt immer daran: Jippijahjee Schweinebacke !!!
10. Juli 2017
Montag. Tag zwölf nach neuer Zeitrechnung. Gestern habe ich das erste Mal weinen können. Ich meine so richtig. Eigentlich wollte ich das gar nicht, ich will dem Unheil in mir gegenüber keine Schwäche zeigen. Haaaaaalt, bevor ihr jetzt schreibt, dass weinen keine Schwäche ist, sei gesagt, dass ich das auch für keine Schwäche halte, weil es eine normale Reaktion auf ein anormales Ereignis ist. Im Übrigen tat das echt gut. Das dazu….
Heute haben Gisela und ich einiges vor. Vielleicht geht die berühmte Chemotherapie los und mit hoher Wahrscheinlichkeit werde ich zur weiteren palliativen Behandlung nach Hause entlassen. Die Lähmung nach der Chefarztszene fällt langsam ab und macht einer speziellen Form von Trotz Platz. Das war im Übrigen vergangenen Donnerstag wie eine Szene aus einem billigen amerikanischen Film. Triefend vor Klischees war diese Szene und sie wiederholt sich in unseren Köpfen ständig. So wie ein Ohrwurm, nur ist das eine sehr abstoßende Art von „Gedankenwurm“.
Ich liege im Bett, Gisela sitzt auf der Kante. Dr. Chefarzt steht im weißen Kittel mit einem Helferlein vor dem Bett und spricht die bemerkenswerten Worte: „Sie müssen schnell ihre Dinge regeln. Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht. Sie leben noch zwischen sechs und neun Monate. Handlungsfähig sind Sie vielleicht noch sechs Wochen.“ Die Tage danach waren wir ein Stück weit paralysiert. Internetrecherche bestätigte die Prognose gnadenlos.
Dann der Kampf um das Methadon. Meine einzige winzige Hoffnung, den Scheiß zu überleben, zumindest länger als die prognostizierten sechs Monate. Letztlich war es eine einzige, couragierte Ärztin, die sich über die Anweisungen der Chefärzte hinwegsetzte. Heute Morgen hat dann der Chef-Onkologe meine Chemotherapie abgesetzt, weil ich Methadon als Schmerzmittel nehme. Ist zwar absolut krass und grotesk, dass mir nun die unter Umständen lebensrettende Therapie verweigert wird durch diesen Mann, letztlich aber auch nur eine der vielen unglaublichen Anekdoten meines Lebens.
Morgen um dreizehn Uhr sitze ich bei einem anderen Onkologen in der Praxis. Die Ärztin, die mir das Methadon verschrieb, hat ebenfalls eine Adresse recherchiert, damit ich in jedem Fall weiter behandelt werde. MIT Methadon. Es gibt eben solche und solche Ärzte. Die einen sind karrieresüchtige Weißkittel ohne Eier und die anderen sind eben echte Ärzte. Langweilig wird es also nie in meinem Leben, wie es scheint.
Heute also erst einmal nach Hause. Gott sei Dank. Ich weiß, dass es mir in unseren Daheim viel besser gehen wird als hier. Ich will mich auf jeden Fall bei den (meisten) Ärzten des evangelischen Krankenhauses und dem Pflegepersonal aus vollem Herzen bedanken. Mir wurde sehr viel Güte und Freundlichkeit sowie ein hohes Maß an Mitgefühl zuteil. Das hat mir das alles zu ertragen geholfen. Fern jeder Heuchelei erfuhr ich viel Authentizität seitens vieler Ärzte und dem Pflegepersonal. Dass ausgerechnet der Chef der Onkologie sich so verhalten hat, ist auch repräsentativ für die gesamte deutsche Ärzteschaft.
Das wird also noch ein weiter Weg für all die Menschen, die ebenfalls diese oder eine ähnliche Diagnose ertragen müssen. Das Verbot von Hoffnung, ausgesprochen durch Ärzte, die einst einen Eid geleistet haben, sich dem Wohl von kranken Menschen zu widmen, ist ein unmenschlicher Widerspruch in sich. Ein wenig mutet das an wie einst die Verleugnung der Tatsache, dass die Erde eine Kugel ist, Schweine nicht fliegen können und Frauen dem Manne nicht Untertan sind. So ist es stets gewesen zu allen Zeiten und die sogenannte hochmoderne, humanistische, christliche und was weiß ich für eine Gesellschaft ist nichts weiter als der selbe Mist, der im Mittelalter normal war. Immer nur Missgunst, Neid und Profilierungssucht als Antrieb. Altruismus und Menschlichkeit als Zeichen von Schwäche und der eigene Vorteil zum Maß des eigenen Handelns erhoben. Gott, widert mich das manchmal an.
Dann ist es gut, dass ich meinem Wahlspruch: „Geht nicht, gibts nicht“ noch nicht abgeschworen habe, denn ich habe nun, da ich diese Zeilen schreibe, alles in trockenen Tüchern. Und neben meinem Kampf um mein Leben werde ich die verbleibende Energie darauf verwenden mein „Maul aufzumachen“ und so vielleicht im Kleinen Prozesse in Gang zu setzen, die es ermöglichen, einen neuen, reiferen Weg zu gehen. Haltet mich gerne für größenwahnsinnig oder durchgeknallt. Ich habe Krebs, ich darf das !!!
12. Juli 2017
Gestern habe ich es also tatsächlich nicht geschafft, mein kleines Tagebuch hier fortzusetzen. Seit wir von meiner Erkrankung wissen, nimmt der Stress irgendwie zu. Termine bei Ärzten und Diagnostikern, tausend Sachen die geregelt werden müssen. Sehr viele und lange Gespräche. Wenn hier abends die Ruhe einkehrt, sind wir oft fix und fertig. Aber das ist auch gut so. So bleibt weniger Zeit und Raum zum grübeln.
Ich hatte gehofft, dass ich mich an die neue Situation gewöhnen würde, leider geht das offenbar nicht. Es ist morgens der erste und abends mein letzter Gedanke. „Du hast Krebs, du musst sterben. Ich habe Krebs, ich muss sterben.“ Dieses Gedankenkarussell dreht sich permanent in meinem Kopf. Aber das ist irgendwie auch, als würde man an Bahngleisen wohnen. Irgendwann hört man den Zug nicht mehr.
Und am Donnerstag werden Gisela und ich heiraten. Um elf Uhr fünfzehn schließen wir im Standsamt Lippstadt den Bund fürs Leben. Das ist uns unglaublich wichtig. Es ist für mein Leben ein wichtiges Zeichen, nämlich dass es weitergehen wird. Es wird keine große Feier geben oder so. Nur Gisi und ich, dann verbunden für den Rest unserer Tage. Darauf freuen wir uns wie verrückt.
Am Freitag dann um neun Uhr werde ich meine erste Chemotherapie bekommen. Weil ich körperlich noch recht fit bin, haben die Onkologin und ich mich darauf verständigt, „eine Schüppe draufzulegen“. Das bedeutet, dass die Chemotherapie mehr als nur palliativ dosiert sein wird. Wenn schon, denn schon.
Gestern war auch ein Zeitungsredakteur hier. Unsere lokale Zeitung ist irgendwie auf meine Facebookposts aufmerksam geworden und will jetzt darüber berichten. Soll sogar eine ganze Reihe werden, mein „Krebstagebuch“ sozusagen. Da sind wir sehr gespannt drauf.
Das Methadon schmeckt zwar absolut widerlich, hilft aber unglaublich gut gegen die Schmerzen. Ungefähr so, als würde man eine Zigarette zerkauen. Pfui Deibel. Aber angesichts der Chance, die uns dieses Medikament bietet, kann es schmecken wie es will. So, es gibt auch heute viel zu tun, deswegen belasse ich es heute bei diesem kurzen Text. Ich möchte mich noch einmal für die vielen guten Wünsche und eure Unterstützung bedanken. Das schenkt mir, schenkt uns, Kraft. Und die können wir, weiß Gott, gut gebrauchen.
13. Juli 2017
Heute