„Doch warum will man es?“
„Die Frage ist zu einfältig! – Erscheine ich Ihnen nicht wenigstens sympathisch?“
„Und was sagt die Sympathie?“
„Sie glauben nicht an sie?“ Er lachte nun ein wenig. „Sie werden erkennen müssen, dass sie oftmals klugen Rat gibt.“
„Wie stünde es in der Welt, wenn man nur jene Menschen kennen lernen müsste, die man mag? – Ich habe wenig Vorurteile, sage ich Ihnen ganz ehrlich, doch glaube ich zudem, dass sich Freundschaft bald von selbst ergibt oder auch nicht.“
Leicht neigte er den Kopf. „Gewollt von wem? Von Ihnen?“
„Nicht zwangsläufig, doch auch nicht unbedingt von dem Gegenüber.“
„Dennoch können Sie sich mir nicht mehr entziehen, da ich längst beschlossen habe, mich mit Ihnen auszutauschen, was geschieht.“
„Doch hätten Sie dies nicht beschlossen, wenn wir nicht zufällig heute zu der Uhrzeit diesen Zug genommen hätten und uns so begegnet wären.“
„Das ist wohl wahr, wir sind nicht ohne ein Schicksal, doch darf man es als ein solches akzeptieren und infolgedessen nutzen! Die Aktion ist etwas, was wir nur schwer lernen, stets glauben wir, dass nur Reaktion uns vorherbestimmt sei, auch ich war lange Zeit der Meinung. Man steckte mich in den Beruf, der günstig schien, und ich gab nach, es sei das Schicksal, dachte ich. Wie falsch! In Wahrheit steht die halbe Welt uns offen! Die Kunst ist es, nicht zu bedauern, sondern das Agieren rechtzeitig zu lernen, und so mögen Sie nun wissen, dass ich tagtäglich bemüht bin, alles Gutes aus diesem Beruf und seinen Vorteilen zu schöpfen und es ist sehr vieles, wenn man danach sucht. Aktion ist stets beschränkt in einem weiten Rahmen, der nicht lähmt, obwohl so viele es annehmen, woraufhin sie gar nicht anfangen, zu handeln. Es ist jedoch nicht verwerflich, dass wir Grenzen haben, es kommt uns entgegen!“ –
Ich erzählte ihm, ich ziehe nach Paris.
„Das verdient Hochachtung und Neid zu gleichen Teilen. – Nun, vielleicht werden wir zwei uns doch begegnen in der Stadt.“
„Diese ist groß…“
„Aber das Licht in ihr begrenzt. – Sind Sie allein?“
„Noch bin ich es, doch werde ich in einer Wohngemeinschaft leben.“
„Welche Chance! Diese Brücke ist gebaut, denn es ist unumstößlich, eine Wohngemeinschaft sorgt dafür, dass man sich näher kommt, als einem lieb ist, und dabei ist man gezwungen, auch zu sehen, was man im Vorübergehen ignoriert. Sie werden vieles sehen in Paris, doch gleichsam wird Paris Sie sehen, Mademoiselle.“
„Man muss sich wohl sehr gut verstehen, wenn man keine tiefe Abneigung bezüglich seiner eigenen vier Wände spüren möchte?“
„Kennen und verstehen wollen! Beides kostet Kraft und Mut, weil es auch immer heißt, die eigne Überzeugung einer Probe auszuliefern. – Ich wünsche Ihnen, dass Paris seine Augen Ihnen nicht verschließen wird, es ist ein Miteinander, vergessen Sie das nicht.“
Als wir in den Bahnhof rollten und uns Lärm und heiße Luft entgegenschlugen, stand er auf und reichte mir voller Ermunterung eine Hand. „Ein wenig Aktion nur von meiner Seite machte uns zu Reisebekanntschaften. So bleibt der Mensch nicht lange alleine, Mademoiselle.“
„Ich habe gerne reagiert“, meinte ich da.
„Paris erfordert eben beides, Mut zur Aktion und zur Reaktion. Im Nichtstun kann niemandem Hilfe kommen.“
Als er freundlich lächelnd seinen Koffer nahm, sah ich das kleine goldne Kreuz, das unter seinem hellen Hemd durchschimmerte.
2. Kapitel
Weder die Aktion noch die Reaktion erschien mir leicht umsetzbar, als ich später die Bekanntschaft mit Juliette Luxanche und Bradford Seamon machte, ich war freundlich, so wie sie, doch mehr war mir zunächst nicht möglich, denn der erste Eindruck von Paris nahm alle meine Sinne in Beschlag, die lauten Straßen, hohen Häuser, und dann jenes Appartement im Quartier Latin, im vierten Stock, das fortan mein Zuhause heißen sollte. –
Noch sah ich nicht viel, denn alles wirkte gleich, all die Gefühle und Gerüche, Farben, Formen, ich suchte Besonderheiten, um den Überblick zu wahren, doch letztendlich rauschte alles geballt weiter. –
Was sagte man jemandem, dem man in Zukunft näher kam als einem lieb war?
„Fühlen Sie sich hier willkommen, falls Sie Schwierigkeiten haben, helfen wir Ihnen sehr gerne.“
Dabei war es merkwürdig, gleich einem Fremdkörper in diesem Haus zu leben, in das Zimmer einzuziehen, in dem kurz vor mir ein anderer gelebt, geschlafen und gedacht, das Knarren dunkler Dielen gespürt hatte und die Bücher in das schmale Regal an der Wand gestellt. Doch nahm ich Juliettes nette Worte durchaus ernst und stellte fest, dass sie mir Hoffnung und Heimat vermittelten, ja das Gefühl, zumindest wahrgenommen zu sein. Es hieß warten auf die Zeit, dass ich verstand, wer ich hier war und wer ich sein würde und wie nah man sich kam.
In Paris stand die Luft, selbst wenn man alle Fenster zugleich aufriss, zog kein Windzug durch den Raum, nur der Gestank nach Autos und nach Stadt erfüllte ihn sogleich. Es war ein warmer Sommer, in Paris ein Graus. –
„Sie haben ja kein Meer“, bemerkte ich, als Lance Leprince am Fenster stand und einsam rauchte, „deshalb ist die Luft so stickig und verbraucht.“
„Es fehlt mir nicht“, meinte er nur. „Die Hitze ist durchaus erträglich, wenn man sich genügend Ablenkung verschafft. – Es gibt ganz anderes, das Sie verwundern dürfte.“
Was er meinte, war die Hitze in der Nacht, in der noch immer Autos unten auf der Straße übers Kopfsteinpflaster rollten und der Schweiß auf meinem ganzen Körper stand, er meinte die Geräusche einer fremden Welt, die niemals ruhte, denn es gingen ständig Schritte durch das Haus, und etwas schabte, und Juliette besaß unglaublich viel Parfum, und Bradford kam am Morgen gegen ein Uhr heim. –
Was mich am meisten staunen ließ, war jedoch, dass ich mich nicht hilflos noch alleine fühlte, sondern neugierig und beinahe erfreut.
3. Kapitel
Noir & Blanc, dies war der Name jener Buchhandlung im Herzen von Montmartre, die mich fortan einstellte. Auf diese Weise, denn sie lag ein paar Stationen mit der Metro vom Quartier Latin entfernt, fuhr ich tagtäglich durch Paris, und so erlebte ich auf jeder Fahrt mehr und mehr von der Stadt. Der künstlerisch-dörfliche Flair Montmartres faszinierte mich, ich staunte über die vergangene Ästhetik, die das Viertel präsentierte. –
Die Buchhandlung war anders, sie war anders als Paris, sie war die ehrwürdige Stätte großer Werke, wahre Literatur bot die Inhaberin, Madame Blanc, den Kunden feil. Die Klientel war gut betucht und kam nicht zufällig vorbei, man schlenderte nicht ohne Grund durch die strahlend geputzte Glastür.
„Buchhändler ist kein Beruf wie jeder andere“, belehrte Madame Blanc, „es ist vielmehr eine Berufung, denn wir tragen mehr Verantwortung, als man allgemein denkt. Die wenigsten von uns begreifen das! Ich aber bin der Ansicht, dass wir wahres Schriftgut konservieren sollten, auf dass niemand versucht wird, es zu vergessen.“
Das Gebäude war verwinkelt und recht dunkel ob der Bücher, die sich vom Boden bis in die höchsten Höhen stapelten. Man roch sie auch, sobald man eintrat, alte Tinte und die Worte und das Wissen, und alles besaß eine penible Ordnung, die Madame Blanc festlegte und ständig pflegte. Sie sortierte Folianten, eilte dann durch den Raum, sie einzuordnen, und ich suchte nach den