„Komm“, sagte Ysell also. „Erzähl mir was!“ Sie warf schnell ein paar Hand voll Stroh aus ihrem Bett auf den Boden und breitete ihre Decke darauf aus. Dann legte sie sich darauf, nahm Läufer in den Arm, genoss das Wohlbehagen, das er ausstrahlte, und versuchte, ihm Ruhe und Sicherheit zu geben. Es funktionierte. - So schliefen sie bis zum frühen Morgen und beider Träume waren sanft und heiter.
Nur einmal noch ging Ysell in die Wohnung ihrer Eltern. Bogan hatte ihr zur Zeit der Hochsonne für die Dauer von zwei Handmaß freigegeben und sie war bester Laune in die Stadt gegangen, um ihre Mutter zu besuchen. Ysell hatte so viel erlebt in letzter Zeit - sie musste ihren Eltern einfach davon erzählen.
Ysells Mutter war nicht allein.
Ysell war fröhlich die Treppe hinaufgepoltert und hatte sich schon darauf gefreut, ihrer Mutter von all ihren Erlebnissen zu berichten. Jetzt stand sie stumm in der Tür des Zimmers, das die Familie bewohnte. Mit einem Blick hatte sie die Situation erkannt.
Erhitzt und mit hochroten Gesichtern standen Ysells Mutter und ein Soldat der Stadtwache mitten im Zimmer und versuchten hastig, ihre Kleidung zu ordnen. Wein stand auf dem Tisch und um den Fuß des Kruges hatte sich eine rote Pfütze gebildet, in der ein paar kleine Münzen lagen. Der Soldat war schon alt; er grinste Ysell verlegen an, und sie sah, dass er kaum noch Zähne im Mund hatte. Ysell hätte das zerwühlte Bett gar nicht erst sehen müssen, um zu wissen, was hier geschah - bei was sie gestört hatte.
Wortlos wandte Ysell sich ab und schloss die Tür hinter sich. „Sag aber Papa nichts!“, hörte sie noch, als sie mit leerem Gesichtsausdruck langsam die Treppe hinabging. Niemand folgte ihr, und das war auch besser so - denn Ysells Hände waren zu Fäusten geballt.
Ysell ging zurück zum Zwinger. Das süße Gebäck, das sie auf dem Hinweg gekauft hatte, drückte sie im Vorbeigehen einem Kind in die Hand, das ihr verwundert nachschaute.
Bogan sagte nichts, als Ysell viel zu früh zurückkam. Sie hatte schon befürchtet, er würde sie in ihrem Zustand nicht zu den Hunden lassen, aber er ließ sie gewähren.
Die Trosshunde auf dem Hof merkten, dass mit Ysell etwas nicht stimmte. Sie schauten ihr mit schief gelegtem Kopf entgegen, kamen angelaufen und stupsten forschend an ihr herum. War es Mitleid, was die Tiere empfanden? Spürten sie Ysells Trauer um ein verlorenes Glück, das sie nie hatte kennen lernen dürfen? Ysell ging zu Läufer, hockte sich in eine Ecke, nahm den Welpen in den Arm; er fiepte leise und leckte tröstend ihre Hand, während ihre Tränen sein Fell benetzten.
In gleichem Maß, in dem Ysells Beziehung zu Läufer sich festigte, nahm der Welpe an Kraft und Gewandtheit zu. Sein Körper straffte sich, seine Pfoten wirkten nicht mehr ganz so dick und tapsig; und seine Bewegungen wurden zusehends kraftvoller und geschmeidiger. Das war die Zeit, in der Läufer eigentlich immer Hunger hatte. Er wuchs so schnell, dass man fast dabei zusehen konnte. - Und er wurde immer frecher.
Dass Trosshunde keine Kuscheltiere sind, lernte Ysell an einem sonnigen Morgen, als sie mit Läufer über den Hof ging, um sich ihr Frühstück abzuholen. Für einen Moment war sie abgelenkt, weil eine Trossfrau sie am Brunnen um Hilfe bat. Sie sah noch, wie Läufer zu dem Baum hinüberlief, unter dem Athos, der ranghöchste aller Trosshunde, lag und vor sich hin döste.
Athos´ zorniges Bellen riss Ysell herum und entsetzt sah sie, wie der riesige Rüde mit zurückgelegten Ohren und gefletschten Zähnen auf Läufer niederfuhr. Der Kleine wich erschrocken zurück, aber sofort setzte Athos nach und war mit weit aufgerissenem Rachen wieder über ihm.
„Nein!“, schrie Ysell, sprang mit einem Riesensatz vor den tobenden Trosshund hin und riss Läufer aus der Gefahrenzone. Athos blieb stehen und schaute verständnislos, als Ysell sich rasch mit Läufer auf dem Arm zurückzog und ihm mit der Faust drohte.
Wenig später stand die schluchzende Ysell, Läufer fest neben sich haltend vor Bogan, der sich die Sache mit ernstem Gesicht anhörte.
„Er hasst Läufer! - Er will ihn töten! - Die anderen Welpen sind vielleicht auch in Gefahr! - Er ist verrückt geworden!“
Bogan kam mit auf den Hof und gemeinsam gingen sie zu Athos hinüber, wobei Ysell immer darauf achtete, zwischen Läufer und dem Trosshund zu bleiben.
Oben an Athos´ linkem Hinterlauf war deutlich eine feuchte Stelle zu erkennen. Bogan strich mit dem Finger darüber und hielt ihn Ysell mit wissendem Gesichtsausdruck hin. Der Finger war blutig. „Gebissen!“, sagte er nur, und sah Läufer kopfschüttelnd an. „Der kleine Schreck wird ihm ganz gut bekommen.“
„Du bist eine Plage!“, ließ Ysell Läufer wissen und da er spürte, dass sie diesmal wirklich böse war, hielt er sich für fast eine halbe Handmaß fern von ihr.
Von Anfang an war es klar gewesen, dass Ysell aus dem nächsten Wurf des Zwingers wieder einen Rüden erhalten würde, und als Yana, eine eher zierliche Hündin, denn sie war nur knapp hüfthoch, einen Wurf gesunder Welpen zur Welt brachte, erhielt Ysell Reißer für ihr Rudel zugeteilt. Läufer hielt nicht allzu viel von dem neuen Mitbewohner des Zwingers hinter Ysells Kammer. Er neigte ein wenig zur Eifersucht und mehr als einmal zeigte er Reißer die Zähne, so daß der Kleine verängstigt zu Ysell gelaufen kam und sich hinter ihr verbarg. Ysell verstand Läufer ja, aber sie konnte sein Verhalten natürlich keinesfalls dulden. - Nur gut, dass sie schon sehr viel von seinen Gefühlen spüren konnte, bevor es wieder zu einem Ausbruch kam. Ysell musste sich jetzt möglichst gerecht zwischen den beiden aufteilen, und es war nicht leicht für sie, sowohl den nörglerisch-aggressiven Läufer als auch den ängstlich Liebe heischenden Reißer angemessen zu behandeln. Ysell lernte es, zu loben ohne zu bevorzugen und zu tadeln ohne ungerecht zu werden.
Auch sonst ging mit Ysell einiges vor. Aus Zweibein-Welpe wurde eine junge Frau. Mehr noch als die diffuse Meinung der Hunde sagten ihr die Blicke der Aufspürer und Trossmänner, dass sie in Ysell nicht mehr das Kind sahen, als das sie hergekommen war. Läufer brachte es eines Tages auf den Punkt, als sie mit ihm über den Hof ging. Ysell fing plötzlich einen sehr intensiven Gedanken an Paarung auf. Erstaunt schaute sie auf Läufer herab - er war doch noch viel zu jung. Dann begriff Ysell plötzlich, dass es nicht eigentlich Läufers Gedanken waren, die sie empfing, sondern dass er den Impuls selbst empfangen und nur an sie weitergegeben hatte.
Ysell schaute sich um. Trossmann Pekan stand beim Brunnen, schielte unauffällig zu ihr herüber und vergaß dabei glatt, die Kurbel zu drehen, an der der Eimer hing. - Ausgerechnet Pekan, der mit seinen blöden Witzen allen auf die Nerven ging, ausgerechnet er machte sich Hoffnungen, mit ihr anbandeln zu können. Schnell wechselte Ysell die Richtung und ging direkt auf den verblüfften Pekan zu, der ihr verlegen grinsend entgegenstarrte. Dicht vor ihm blieb sie stehen und machte ihm ein Zeichen, dass sie ihm etwas ins Ohr flüstern wolle. Überrascht beugte Pekan sich ein Stückchen herab und wäre vor Schreck fast hintenüber geschlagen, als Ysell ihm ein „Nein!“, ins Ohr brüllte.
Später am Tag bekam Ysell dann ein schlechtes Gewissen, denn es ist ja eigentlich nichts Schlimmes, jemanden zu begehren. Pekan hatte es ja nicht böse gemeint. Zu ihm gehen und sich entschuldigen mochte Ysell aber auch nicht. Allerdings schien er ihr die kleine Gemeinheit auch nicht übel zu nehmen, denn am Abend, beim gemeinsamen Essen, saß er bei Diré, einer jungen Trossfrau, am Tisch und machte wie immer seine blöden Späße, ohne Ysell besonders zu beachten.
Es war in dieser Zeit nicht leicht für Ysell, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Plötzliche Heiterkeit wechselte sich mit ebenso unvermittelt auftretender Schwermut ab und zeitweise kehrte auch ihr grundlos aufwallender Groll gegen alles und jeden zurück. Sie versuchte aber, sich zu beherrschen und sich weder vor den Menschen, noch vor ihren Hunden eine Blöße zu geben. Wenn es allzu schlimm wurde, dann schlich sie sich nachts vom Zwingergelände und tobte ihre unbenennbare Wut in Gewaltmärschen durch die Sandfelder aus, auf denen tagsüber mit den Hunden geübt wurde.
Bei all ihren Problemen ließ sich Ysell aber nie dazu hinreißen, die Hunde unter ihren Launen leiden zu lassen. Im Gegenteil: - Oft sprach sie halbe Nächte lang mit den Tieren und es tat ihr wohl, die warmen, freundlichen Stimmen der Hunde in ihrem