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„Hast Du auf die Karten gesehen?“, fragte Korbinian seinen langjährigen Freund. Als dieser mit besorgtem Blick nickte, wusste Korbinian, dass Samuel ebenfalls die kleinen Punkte beobachtet hatte, die sich Filitosa unaufhaltsam näherten. Und, dass er sich bereits ähnliche Gedanken gemacht hatte wie er selbst.
Samuel antwortete mit ernster Stimme. „Einige werden es nicht bis zum Sonnenaufgang morgen früh schaffen, auch wenn sie nicht einmal zum Essen oder Schlafen anhalten würden. Selbst bis zum Beginn der Versammlung am Abend nicht. Sie sind einfach noch zu weit weg.“ Samuel kratzte sich am Kinn. „Ich habe schon hin und her überlegt, aber mir will keine Lösung einfallen. Wir können den Beginn der Suche nicht verschieben, die Zeit wäre zu knapp. Hast Du eine Idee?“
Korbinian schüttelte langsam den Kopf. „Nicht wirklich. Mir schoss ein paar Mal ein Gedanke durch den Kopf, auf den letzten zu warten und dann die Suche mit Pferden durchzuführen. Aber wo sollten wir zweihundert Pferde hernehmen?“
Er schüttelte nochmals den Kopf und blickte dann ziellos in das Dorf hinein. So saßen beide minutenlang da und grübelten. Bis Samuel den Kopf zu Korbinian drehte und ihn anlächelte. „Und was wäre, wenn nicht alle mit Pferden auf die Suche gingen, sondern nur ein paar? Es könnte doch auch so funktionieren: Die Suche beginnt wie geplant. Dabei lassen wir einige Lücken in den drei Speichen. Wir warten auf die Verspäteten und schicken sie einfach mit den Pferden hinter den anderen her. So können sie den Vorsprung relativ schnell aufholen, ohne dass die anderen kostbare Zeit durch Warten verlieren müssten!“
Jetzt lächelte auch Korbinian wieder. Er schlug seinem Freund auf die Schulter. „Wie kann man um diese Uhrzeit schon so gute Ideen haben? Ja, ich glaube, das wird funktionieren! Ich mache mich gleich an die Planung!“
Zusammen gingen sie zum Haupthaus. Dort bog Samuel zum Speisesaal ab, während Korbinian die Treppen zu seinem Kontor hinaufstieg.
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Quentin war auf dem Weg zum Markt. Finja hatte ihn nach dem zweiten Frühstück losgeschickt, um einige Besorgungen zu machen. Leider waren die Schausteller schon weitergezogen, und so stapfte Quentin ein wenig griesgrämig zum Bäcker.
Dort angekommen, besserte sich seine Laune schlagartig. Der Bäcker empfing ihn mit großer Freundlichkeit, erkundigte sich nach dem Befinden von Finja und bot ihm süße Teilchen und Saft an, während Quentin erzählte.
Als die Besorgungen erledigt waren, war Quentin so vollgestopft, dass er zu Mittag kaum etwas essen konnte. Finja wunderte sich, weil Quentin sonst immer ein guter Esser war. Sie fragte, ob es ihm gut gehe, und lachte schallend, als Quentin von seinem nahrhaften Gespräch mit dem Bäcker berichtete.
Nach dem Essen ging es wieder in die Mühle. Es mussten noch einige Säcke vorbereitet werden, denn Medard sollte am Nachmittag wieder zu einer Auslieferungsfahrt in die benachbarten Dörfer aufbrechen.
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Meara blinzelte verschlafen. Sonnenstrahlen fielen durch kleine Spalte zwischen den zugezogenen Vorhängen ihrer Unterkunft und malten helle Flecken auf ihre Bettdecke. Es musste längst Nachmittag sein. Sie überlegte, ob sie sich noch einmal umdrehen sollte. Aber es gab noch einige Sachen zu besorgen, und so schwang sie sich etwas widerwillig aus dem Bett.
Natürlich war in der Runde im Speisesaal die Suche nach dem fehlenden Lehrling das beherrschende Thema gewesen. Sie hatten den Plan in allen Einzelheiten – so weit sie ihn kannten – durchgesprochen und freuten sich schon alle auf die Herausforderung. Das war doch mal etwas anderes als tagaus, tagein einem Beruf nachzugehen! Viele der Gesellen hatten sich in einer Anstellung verdingt, und der eine oder andere war sogar ganz froh, auf diese Weise einem allzu strengen Handwerksmeister entronnen zu sein. Meara lächelte in Gedanken an die lustige Runde, die bis weit nach Sonnenaufgang zusammengesessen hatte.
Sie hatte wirklich Glück mit ihrer Unterkunft: Als eines der wenigen Häuser im Dorf hatte es ein kleines Badezimmer und zwei richtige Schlafzimmer. Die anderen Häuser waren fast ausnahmslos Werkstätten oder Geschäfte, nahezu alle Zauberer und Lehrlinge schliefen für gewöhnlich im Haupthaus. Mearas Mitbewohner waren schon lange gegangen, um ihre Besorgungen zu machen. So konnte sie sich in aller Seelenruhe waschen und anziehen.
Nachdem sie fertig war, setzte sie sich auf ihre Bettkante und ging die Liste mit den vorbereiteten Ausrüstungsgegenständen durch. Einige von ihren Habseligkeiten waren durch ständigen Gebrauch inzwischen arg mitgenommen. Die würde sie in jedem Fall ersetzen. Ihre Decke war noch völlig in Ordnung, die konnte sie weiterbenutzen. Auch ihr kleiner Topf und die Kochutensilien bedurften keiner Erneuerung. Aber ihre Zimmermannskleidung war für die Suche nicht geeignet. Also musste sie auch zum Schneider.
So ging sie die Liste Punkt für Punkt durch und staunte dabei nicht schlecht, was die Dorfbewohner in so kurzer Zeit alles auf die Beine gestellt hatten. Dahinter musste ein echtes Talent stecken. Meara tippte auf ihren Lehrmeister Samuel, der hatte während ihrer Lehrzeit schon immer ein besonderes Geschick für die Organisation von großen Festen und anderen Veranstaltungen bewiesen.
Meara freute sich darauf, ihn zu treffen und ihm ihre Erlebnisse zu berichten. Sie richtete noch kurz ihr Bett und trat dann hinaus in das warme Licht eines wunderschönen Nachmittages.
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Adina kam gerade mit einem anderen Bäckerlehrling vom Haupthaus zurück, wo sie Kuchen und andere süße Sachen für den Nachmittagskaffee im Speisesaal abgeliefert hatten, als sie auf Meara traf. Sie begrüßten sich freudig und fingen natürlich sofort an, über die Suchaktion zu reden. Meara wusste, dass sie mit Adina diejenige Person vor sich hatte, die für das alles verantwortlich war, und teilte ihr natürlich mit, wie gut die Idee bei den Gesellen ankam.
Adina bekam leuchtend rote Flecken auf den Wangen und machte abwehrende Handbewegungen. „Ach was, da wäre früher oder später auch ein anderer daraufgekommen. Aber sag mal“, fuhr sie fort, „was hältst Du von einem oder zwei Stück Kuchen und einer Tasse Kaffee in der Bäckerei?“
Meara stimmte sofort zu. Schon beim Gedanken an ein leckeres Stück Pflaumenkuchen lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Das letzte Stück zur Bäckerei gingen sie ein bisschen schneller.
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Samuel saß an seinem Schreibtisch, als Meara am frühen Abend zur Tür hereinkam. Mit freudigem Lächeln stand er auf, ging ihr entgegen und schloss sie lange in seine Arme. In den Jahren ihrer Ausbildung war Meara ihm sehr ans Herz gewachsen.
Sie setzten sich vor dem Haus auf eine Bank, und Meara erzählte in aller Ausführlichkeit, was ihr im letzten Jahr widerfahren war. Irgendwann unterbrach Samuel lächelnd ihren Redefluss. „Hast Du denn schon alle Sachen besorgt, die Du brauchst, Meara?“ „Ich denke schon“, antwortete sie. „Ich muss morgen früh nur noch zum Schneider und meine Sachen abholen, die gerade geändert werden. Warum?“
„Ich könnte morgen ein wenig Unterstützung gebrauchen“, sagte Samuel, und schon war Meara eingeteilt, die Organisation der Versammlung zu übernehmen, die am nächsten Abend stattfinden sollte. „Alles, was Du brauchst, ist immer noch an den gewohnten Orten. Ich habe mir gedacht, wir machen die Versammlung am See, da haben wir am meisten Platz. Korbinian wird ein kleines Podest brauchen, damit ihn auch alle sehen können. Nimm Dir ein paar Gesellen aus Deinem Abschlussjahr dazu. Ich habe gehört, dass dem einen oder anderen so langweilig sein soll, dass sie die Nächte im Speisesaal verbringen.“ Samuel lächelte verschmitzt, als die Hexe bis über beide Ohren errötete.
Meara war erleichtert, als Samuel die etwas unangenehme Situation mit der Frage beendete, ob sie gern mit ihm zu Abend essen würde. Natürlich wollte sie, denn auf diese Weise hatten sie noch ausreichend Zeit, sich zu unterhalten. Sie hakte sich bei Samuel unter, und gemeinsam schlenderten sie zum Haupthaus.
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Quentin wusch sich gründlich. Ein weiterer Tag seiner Lehre